Tag 3: Geretsried bis Lenggries, km 28, hm 150, Unterkunft Hotel Altwirt Lenggries.
Wer um 8 Uhr morgens Termine ausmacht, muss VOR 8 Uhr aufstehen, den Punkt hatte ich gestern Abend übersehen. Na kann ich mich schon mal langsam an dieses „alle lärmen ab 6 Uhr morgens im Schlafsaal rum“ gewöhnen. Frühstück wird in der Pension grad nicht angeboten, Zeit also für meinen Fußpflege-Termin. Eine Stunde lang werden meine Füße (hoffentlich) alpenfit gemacht. Da ich gestern zwei kleine Blasen an den SOHLEN bekommen habe, die sich irgendwie über Nacht zu Luftballons entwickelt haben, ist der Termin nun um so sinnvoller. Statt dass ich mit meiner rostigen Nagelschere da selbst ran gehe, wird professionell behandelt, desinfiziert, gepeelt, massiert, gepflegt. Ich bin für eine Stunde im Wellness-Himmel.
Und verlaufe mich gleich vor der Haustür. Als ich endlich wieder auf dem richtigen Weg bin, gleich nochmal. Mit zunehmend schlechter Laune laufe ich eine nicht endende Gewerbegebiet-Industrie-Strasse entlang, als dann doch ein Ende in Sicht kommt, stelle ich fest, ich bin exakt in die falsche Richtung gegangen. Die ganze lange Strasse also wieder zurück. An zukünftige Venedig-Wanderer: NICHT in die Sudetenstrasse einbiegen, die ist lang, heiß, hässlich. Sie muss sich dir genau in den Rücken bohren und dann gehst du geradeaus, da ist es richtig! Es dauert noch ne Weile bis der rote Punkt (ich) und der rote Strich (der richtige Weg) auf meiner Rother-App wieder übereinander liegen. Geretsried und ich werden keine Freunde, aber irgendwann liegt auch das hinter mir und die Strecke wird eine der schönsten der letzten Tage. Ob weil ab hier alles komplett neu für mich ist, oder ob sie auch objektiv „die Schönste“ ist, vermag ich jetzt nicht zu beurteilen.
Es geht durch einen Wald immer Richtung Bad Tölz, was sehr gut ausgeschildert ist. Nur die angeschriebenen 20 km machen mir langsam Sorge, v.a. weil nicht Bad Tölz sondern das 10 km weiter entfernt liegende Lenggries mein Tagesziel ist. Das ist jetzt doch wieder weiter als gedacht… Während ich darüber nachdenke, passiert das Unglaubliche! Vor mir im Wald sitzt ein Mann auf einem Baumstumpf und liest. Einen Wanderführer, ich kann die Überschrift nicht entziffern. Großer Rucksack daneben. Ich hab da so ne Intuition und frage was er denn da liest… Er antwortete mir auf Englisch, dass er nach „Venice“ läuft und das sein Wanderführer dazu sei! Ich kann es nicht fassen!!! Ich treffe hier den ersten München – Venedig Wanderer! Und freue mich so sehr! Es gibt „uns“ wirklich, das ist nicht nur ein Hirngespinst von mir, es gibt „mehrere“ die das tun!
Er heißt Philipe und kommt aus Belgien. Natürlich ist er erst gestern in München losgelaufen, und auf Hütten ist er nicht angewiesen, er hat ein Zelt und sein Essen dabei. So einer also. Vermutlich trotzdem weniger Gepäck als ich…Ich frage ob ich ein Foto von ihm machen und es posten darf, er lacht sich schier kaputt, sagt aber ja. Ich verabschiede mich mit einem „dann sieht man sich sicher noch öfter“ und biege von der Forststrasse auf der er sitzt links einen kleinen Waldweg hoch, wo ich das gelbe Dreieck, meine momentane Wegmarkierung, gesehen habe. Und 10 Minuten später stehe ich am „Malerwinkel“ dem schönsten Flecken dieses eh sehr malerischen Tages.
Der heißt so, da hier wohl früher gerne Maler standen und auch heute noch stehen um diese Szenerie einzufangen. Ausgerechnet meine Staffelei hab ich jetzt nicht dabei. Es ist 11 Uhr, ich beschließe genau hier mein ausgefallenes Frühstück nachzuholen und kann nicht aufhören in die Ferne auf das glitzernd grüne Wasser zu gucken, die Berge lassen sich schon mehr als erahnen. Ich packe mein letztes „my muesli to Go“ aus (White Berry chocolate), Buttermilch, Aprikosen, Nektarinen, Wasser, den letzten Schokokeks der liebevoll selbst gebacken als Geschenk am Marienplatz überreicht wurde. Irgendwie ist das mehr, als ich die letzten Tage als Auswahl im Hotel bekommen hatte. Ob es etwa doch nicht der von mir verdächtigte Fenistil-Mückenstift ist, der so schwer in meinem Rucksack wiegt? Kurz drauf sehe ich Philipe unten die Forststrasse entlang laufen, in einem Affen-Tempo. Ihm nachrufen, das er hochkommen soll, er verpasst sonst den romantischsten Teil der bisherigen Strecke erscheint mir….irgendwie unpassend. Aber es tut mir so leid! Als ich sehe, wie schnell er zu einem kleinen Punkt in der Ferne verschwimmt weiß ich: Philipe und ich werden uns auf dem ganzen Weg nach Venedig NIE wieder sehen…
Vom waldigen Hochufer steigt man in steilen Stufen ab, meine Knie sind heute so ein bisschen Puddig-mäßig, der schwere Rucksack macht das viele Treppen runtersteigen irgendwie nicht leichter. Ich fühle mich wacklig und unfit.
Unten angekommen ist es … sonnig. Und so bleibt es fast den ganzen restlichen Tag. Bald hab ich die Isar wieder linker Hand. An einem Fluss entlanglaufen mag ich, das ist so förderlich für die Orientierung. Irgendwann kommt ein Abzweig: Bad Tölz weiter an der Isar entlang oder über „Rimslrain“. Das klingt doch unseriös! Rother sagt, da lang, das sei schöner. Und in „Rimslrain“ nicht in den schattigen Waldweg biegen sondern auf der Strasse bleiben! Man würde über einen Hochrücken so schön in die Berge rein laufen. Spontan möchte ich an der Isar bleiben, (Orientierung und so, das klingt vertrauter…) oder wenigstens den schattigen Waldweg gehen, aber Rother hatte bislang immer recht, wenn er was als „schöner“ bezeichnet oder einen Umweg vorschlägt. Also überwinde ich meine Bequemlichkeit und steige erstmal ein paar Höhenmeter auf Richtung „Rimslrain“. Es wird immer heißer, der Rucksack drückt so sehr, ich laufe fast nur auf einer (kaum befahrenen) Strasse, es geht heute alles so zäh wie durch Kaugummi. Ich befolge den gestrigen Kommentar hier auf der Seite von Hans und ziehe erstmals seit Start mein Käppi auf.
Aber Rother hat recht, es ist so wunderschön. An kleinen Dörfern vorbei, an schnatternden Gänsen, neugierigen Kühen, an einem „noch 422 km bis Venedig“ Schild, und ein Rundumblick in die Berge, die mit jedem Schritt näher kommen. Ich fühle mich wie Hermann Hesse‘s Goldmund in seinen Wanderjahren (natürlich ohne die vielen Liebschaften in jedem Ort und eine Mannshohe Marienfigur hab ich auch heut keine geschnitzt.
Es sind zwei sehr starke Empfindungen, das Herz sehr leicht, der Rücken sehr schwer. (Ich werde abends in der Dusche nachsehen ob ich „Dellen“ in den Schultern vom Riemen habe und werde sehr überrascht sein, das dem nicht so ist…)
Noch eine Stunde bis Tölz. Das schaffe ich. Sorgen machen mir langsam die 2 Stunden die DANN noch kommen. Die letzten Kilometer vor Tölz gehen am Isarstausee entlang, nochmal ein optisches Highlight des Tages. Eigentlich wollte ich in Tölz eine Eisdiele aufsuchen, stattdessen setz ich mich ans Wasser und strecke die Beine in die Isar. Das tut so gut. Es ist der Moment in dem das Kopf-an Kopf Rennen zwischen Laufschuhen und Trekkingsandalen zu Gunsten der Trekkingsandalen entschieden wird. Ich ziehe sie an und spaziere in der Isar auf und ab. Mit meinen frisch behandelten Sohlen-Blasen hätte ich das barfuß nicht gemacht. Und mit Laufschuhen auch nicht. Ab morgen sind dann also mit im Gepäck: Schwere Bergschuhe und leichte Trekkingsandalen. In der Finanzwelt heißt das BARBEL-STRATEGIE, wenn man sich nicht in der Mitte, sondern an den beiden äußeren Enden platziert, z.B. bei der Laufzeit von Anleihen. Früher, als es noch Zinsen gab, war das oft vorteilhafter ganz kurze mit ganz langen Laufzeiten zu mischen, anstatt gleich die mittleren zu wählen (falls das jetzt falsch war, wird mein Kollege euch das morgen wissen lassen…)
Ich hole in einer Bäckerei noch Wasser und trete die letzte Etappe an, ein bisschen abgekühlt und Isar-erfrischt. Kurz vor Arzbach das Wunder: Meine Eltern fahren ganz zufällig „meine“ Strasse entlang, wir sind ja für später im Biergarten verabredet. Ich möchte sehr gerne hungrig in der Glutshitze mit Blasen an den Sohlen noch eine Stunde weiterlaufen, aber das wäre jetzt echt unhöflich, das Mitfahrangebot abzulehnen 🙂 Ich rechne mir kurz aus, dass diese letzten 4 km genau die Strecke sind, die ich heute morgen in Geretsried mit meiner „Ortsbesichtigung“ zusätzlich gelaufen bin, und beschließe dass das somit nicht mal geschummelt ist. Jeder München – Venedig Geher bekommt ein Kontingent von 550 km, da kann man sich nicht einfach mehr nehmen!!
Ich nehme meine bislang bei meinen Eltern hinterlegten Bergschuhe feierlich in Empfang, mit Bergkulisse im Hintergrund und werfe diverse Dinge aus meinem Rucksack und gebe es ihnen mit: Die Laufschuhe, den Handgelenk-und Kopfgurt für die Action Cam, die zweite lange Hose, eine reicht, Unterwäsche (ich lauf im Bikini nach Venedig) und diesen mörderschweren Fenistil-Anti-Mücken-Stick. Essen hab ich alles aufgegessen. Was ich nach dem heutigen Tag neu dazu packe ist die Knie-Bandage vom Orthopäden.
Ich bin wirklich von zuhause aus in die Berge gelaufen, jetzt steh ich direkt davor, der Respekt wächst. Waren die ersten Tage eigentlich als Spaziergang gedacht, als lockeres Einlaufen, spüre ich heute doch schon meine Knochen. Mir ist klar dass jetzt „Schluss mit lustig“ ist, der Komfort schlagartig abnimmt, man seine Tage fortan zeitlich ordentlich und aufs WETTER abgestimmt planen muss, nicht auf eventuelle Nagelstudio, Friseur-oder Freundinnen-Termine hin.
Wir haben einen lustigen und leckeren Abend im Biergarten des Hotel Altwirts, wo ich heute nächtige. Mein Papa freut sich über meinen zweiten Reiseführer, so kann er in Gedanken besser mitlaufen, er kennt sich eh schon besser aus als ich. Mama holt mir noch Magnesium aus der Apotheke. Sie lassen sich fast nicht anmerken, dass sie sich schon ein bisschen Sorgen machen.
Ich checke in mein winziges Zimmer ein, telefoniere, sortiere mein nun dezimiertes Gepäck. Gegenüber von meinem Zimmer? Eine Kirche… Muss ich für morgen schon mal keinen Wecker stellen 🙂
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