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Traumpfad München – Venedig Tag 37. Ich bin am Meer. Fragt nicht, wie.



Musile di Piave – Lido di Jesolo. 25 km.


Unfassbar heiß. Schmerzen überall. Unterwegs von 5 Uhr – 15 Uhr, Gehzeit ca. 6,5 Std. Unterkunft Hotel Moncaco 🙂


Ich weiß, ich sollte mich freuen, überglücklich sein, stolz. Ich bin am Meer. Dahin bin ich GELAUFEN! Und das nicht  etwa vom Frühstücksraum eines Strandhotels aus, sondern vom MARIENPLATZ. Der ist in München. Aber ich fühle mich leer und voller Schmerzen. Meine Füße halten nicht mehr lange. Einen Tag noch, BITTE.


Die Nacht war schon schwierig, ich glaub die Erste in der ich schlecht bzw. fast gar nicht geschlafen habe. Ein Hubschrauber kreiste die ganze Nacht über der Stadt, was einerseits sehr laut war, andererseits ist bei Hubschrauber bei mir immer sofort so ein „es ist was schlimmes passiert“-Gefühl. Mir ist schon klar, dass ich in Musile di Piave jetzt nicht SOO viele Familienangehörige und Freunde habe, aber trotzdem. Irgendwer hofft und bangt vielleicht gerade um jemanden, der ihm wichtig ist und der verschwunden ist.

Ich stehe trotzdem mit Max. 2 Stunden Schlaf um 4:30 Uhr auf, um 5:15 Uhr laufe ich schon, die Anzeige an der Apotheke: 22 Grad. Das ist SOO angenehm. Ich habe einen wunderschönen Sonnenaufgang über den Weinbergen in meinem Rücken.




. Auf der „stark befahrenen Strasse“ an der man 3 km entlang muss ist außer mir noch niemand. Das ist angenehm. Es geht eigentlich ganz gut die erste Stunde. Nur meine Blasen an den Fersen unten sind inzwischen bis nach hinten gewandert und haben sich in zwei riesige Ballons verwandelt. Was in den FlipFlops eigentlich egal wäre, aber sie spannen und tun trotzdem so weh bei jedem Schritt. Um halb 7 haben ich den Wegepunkt „Schiffsbrücke“ erreicht, wo ich dachte es sei eine „Schiffsbrücke“, es ist aber eine kleine Fußgänger und Auto-Brücke, die auf Schiff-Rümpfen steht. Dort lasse ich mich nieder, schau aufs Wasser und esse Teile meines Frühstückspaketes vom Hotel. Die süßen natürlich zuerst.



Irgendwann kommt ein Punkt, da beschließe ich, es geht nicht mehr, ich muss „operieren“. Das einzig Gute, das fällt mir an einer Stelle auf, wo man von der Strasse rechts abzweigen kann, ein kleiner Weg sticht weg von meinem Eigentlichen, mit einem Schild dass dort irgendein Naturschutzgebiet sei. Ein Blick auf die Karte lässt mich vermuten, da könnte man zum ersten Mal die Lagune sehen? Genauso ist es.



Wunderschön angelegt, viele Vögel die dort die Morgensonne genießen, ein kleiner Steg auf dem ich mich und mein „Arztbesteck“ ausbreite. Ein Rennradfahrer, ganz in schwarz gekleidet (warum??) hält erschrocken an. Mit Blick auf meinen ausgebreiteten Erste-Hilfe-Koffer und mein Operationsbesteck das ich gerade desinfiziere (Taschenmesser und Nagelschere), fragt er ob ich Hilfe brauche?  Ja, dringend. Wenn du Chirurg bist und gerade zwei eisgekühlte und vor allem NEUE Spender-Füße dabei hast? Die wir kurz gemeinsam operativ austauschen können? Bitte einen linken und einen rechten, ich hab schon zwei linke Hände, das reicht. Und in Größe 41, weil sonst passen die FlipFlops nicht mehr und die kann man nicht mehr neu kaufen…


Mit Blick auf sein Mini-Gepäck kann ich mir schon denken, dass er KEINE Körper-Ersatzteile dabei hat und irgendwie sieht er auch nicht aus wie ein Chirurg. Eher wie der nette KFZ-Mechaniker, der uns gestern beim rotköpfigen Zieleinlauf in Musile di Piave unter seinem Auto heraus nachrief, wir seien „Bellissima“. (Ich dachte ja echt, diese Art Italiener sei irgendwann in den 80gern ausgestorben aber offensichtlich nicht). Ich sage dem Rennradfahrer also, alles gut, ich komme schon klar. Ich bin ja ein „strong girl“ wie mir mehrfach bestätigt wurde. Der Platz ist wirklich schön. Ich bleib noch ein bisschen, nehme eine Schmerztablette, langsam gehen die doch ganz gut weg, und humpele irgendwann weiter. Ich laufe jetzt auf einer kleinen Autostraße, die eigentlich wenig befahren aussieht. Ist sie aber nicht. Es scheint eine Rennfahrer Übungsstrecke zu sein. Ich werde zunehmend aggressiv, hatte ich sonst immer den Eindruck dass die schon echt Rücksicht nehmen auf die paar Verrückten die meinen auf ihren Autostraßen „wandern“ zu müssen, ist das hier… nicht so. Ständig hupt es und jemand fährt in Affentempo eng an mir vorbei. Die Straße zieht sich fast bis Jesolo Ort. Es nervt SO sehr, und natürlich ist es inzwischen auch heiß und schattenfrei. Die Stimmung ist am Tiefpunkt. Aber dann ist Jesolo erreicht.



Gleich nach dem Ortsschild in Jesolo ist ein Park mit Picknickbänken und Schatten. Dort esse ich mein restliches Frühstück und eingeschlafen bin ich vermutlich auch. Mein Schattenplatz war plötzlich in der prallen Sonne. Jetzt schläft sie schon auf Parkbänken…. Vorher hab ich der GeigerIn, die 2 Stunden nach mir los ist, noch das Bild und die Koordinaten von der Stelle geschickt wo ich gesessen bin, sie soll die 3 Minuten Umweg runter gehen, da sieht man die Lagune zum ersten Mal. Sie schreibt eine Minute später zurück „Hää?? Da stehe ich jetzt GERADE.“ das ist ja witzig. So geht Timing. Sie erzählt beim gemeinsamen Eisdielenstop später in Jesolo dann, sie ist da auch runter und hat dort ewig Pause gemacht und aufs Wasser geguckt.


Ja in Jesolo Zentrum steht eine wunderschöne Eisdiele, mit Schattenplätzen, da lassen wir uns gegen 12 Uhr nieder und essen unser „Mittagseis“, es ist SOOO gut!! Ich hab ein Spaghettieis aus griechischem Joghurt-Eis mit Erdbeeren. Genial.



Langsam kühlen wir ein bisschen ab. Es ist ein SEHR besonderer Moment, als ich auf meiner App gucke, wo wir weiter lang müssen, und die vorletzte Etappe schließe und den letzten Tag anklicke. Wir laufen jetzt gleich die erste Stunde der offiziell letzten Etappe. Die Geigerin guckt den Weg im Buch nach, es ist so cool zu sehen, wie weit hinten das inzwischen ist. Alle Seiten davor, sind wir schon gelaufen. ALLE. Das ist verrückt.



Irgendwann tauchen 4 rotköpfige Typen auf, ach schau, die 14,15,16,17-Truppe. Sie lassen sich am Nebentisch nieder und erzählen, sie sind am 17.7. los, 10 Tage nach mir. Oh… Und stehen jetzt am selben Ort, hab ich sooo viele Pausentage gemacht? Ich grübele. Und frage, ob sie keine Pausentage machen? „Nee!!! Diese 5 Stunden Mini-Etappen hier, DAS sind unsere Pausentage.“ Aha. Harte Jungs. Dafür sehen sie aber ganz schön fertig aus… Die Geigerin ist schon wieder viel schneller im Kopf und schlussfolgert: „Dann habt ihr aber trotzdem was ausgelassen?“ jaaa, räumen sie ein, den Col Visentin haben sie nicht gemacht. Ich werde nervös und rücke ein Stück weg. Dann haben sie ja gar keine von Doras Corona-Schutz-Schluck-Impfungen bekommen…Warum??? Frage ich, da war es so toll, der Blick zurück, der Blick nach vorne, was kann es für einen besseren Abschluss geben?? Die 4 meinen, diese Bruchbude da oben kennen sie von einer früheren Wanderung schon, das muss man sich ja nicht zweimal geben. Sie wären eng zusammengepfercht in einem völlig überbelegten Lager gelegen, nachts kam ein Gewitter und es hat in Strömen durchs Dach geregnet. Alle seien hektisch mit Eimern herumgesprungen. Die sind irgendwie so…negativ. Ich finde, das klingt lustig. Und sehr anders als unsere Erfahrung.


Ich gucke auf das Schuhwerk von 14-17, alle haben ihre schweren Bergschuhe an. „Kommt ihr damit klar auf den letzten Etappen?“ alle stöhnen gleichzeitig, 14 meint, er hat nie Blasen, jetzt seit 3 Tagen aber sowas von er kann kaum gehen. Ich überlege, ob man nicht Schuhe produzieren müsste, eigens für diese letzte Woche. Das scheint mir sinnvoll und eine Marktlücke. Die könnte ich dann mit Dora zusammen oben am Col Visentin an die absteigenden München – Venedig Wanderer verkaufen. Als Werbeplakat hab ich so Schocker-Fotos von meinen aktuellen Füssen. Ja das könnte funktionieren. Ich weiß nur nicht, wie man Schuhe produziert. Aber vielleicht finde ich ja doch noch die Gründer/innen von Wandelei, dem FlipFlop Hersteller? DIE wissen das.


Was ich da immer rumtippen würde, fragt Nr. 16, das sei ihm gestern Abend schon aufgefallen. „Ich schreib nen Blog“, sage ich. „Hab ich mir schon gedacht. Lohnt sich das denn finanziell?“ Es ist so ein Moment, wo mir mehrere Antworten gleichzeitig einfallen, ich mich aber für eine entscheiden muss. Ich könnte ihm erzählen, dass ich kurz vor Abschluss eines Mega-Werbe-Deals mit DEM Outdoor-Kleid-Hersteller bin, dem größten Weltweit. Also NOCH ist es nicht der größte, aber Nespresso kannte auch kein Mensch bevor nicht George Clooney in weißen Klamotten damit im Garten rumspaziert ist. So wird das bei mir und dem Bergkleid-Hersteller dann auch sein. Wir werden in Kürze beide unfassbar reich sein. Oder ich könnte ihm erzählen, dass ich im ersten Halbjahr einfach schon so viel Geld verdient habe, dass es fürs Zweite locker reicht, da wäre es doch unsinnig, weiter jeden Tag ins Büro zu gehen. Ob er etwa das GANZE Jahr arbeiten muss um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten? Das täte mir leid. Und dann natürlich die Versteigerung des Prosecco-Barons. Das die noch etwas schleppend läuft, brauche ich ihm ja nicht auf die Nase binden.


Sarkasmus ist ja immer eine etwas aggressive Art von Humor. Ich will ja aber doch ein netter Mensch sein, der seine Umwelt nicht übermäßig auf die Nerven geht. Und erleuchtet sein will ich ja auch irgendwann, am besten bald. Ich entscheide mich also für die nicht-pampige und ehrliche Antwort, obwohl ich seine Frage so dumm finde. Dass ich das für mich mache, und es mir hilft diese unfassbare Fülle an Eindrücken und Erlebnissen der letzten 6 Wochen ein bisschen zu sortieren, wenigstens ein paar schöne Begegnungen, Momente, Eindrücke zu konservieren. Für den „Winter“ wenn mal wieder weniger an Highlights los ist. Oder es einem mal nicht so gut geht. Dass ich aber für mich allein kaum Tagebuch schreibe, mir für andere aber die Mühe so gerne mache. Das anfangs nur Mama, Papa und der Mann mitgelesen haben, (und Hans, aber da bin ich mir gar nicht mehr sicher ob er das noch tut, er hat schon so lange nichts von sich hören lassen) dass aber das Seitenzugriffs-Auswertung-Dings-Programm sagt, es wären jetzt doch schon über 500 jeden Tag. Das glaube ich aber nicht, sonst müsste ich ja langsam doch mal auf Grammatik und Rechtschreibung achten.“


Als wir gegen 13 Uhr aufbrechen, rufen sie uns nach, wir sollen uns nicht verlaufen. Falls wir wieder vor nem Berg stünden, wäre es die falsche Richtung gewesen. Jetzt ärgere ich mich doch, ihnen nicht die pampige Antwort gegeben zu haben.


Wir laufen jetzt „nur noch eine gute Stunde ans Meer“. Bis wir an unserem Hotel sind werden es irgendwie fast 2. Es hört gar nicht mehr auf. Da ich ja fast nicht mehr auf den Fersen gehe wegen der Blasen sondern auf den Fußballen, bekomme ich da langsam auch Blasen. Leute das geht nicht! IRGENDWO muss ich auftreten. Ich laufe jetzt auf den Seitenkanten. Mir tut alles am Fuß so weh, ich spüre jede Sehne, jeden Muskeln, jede Faser fragt was der Mist hier eigentlich soll.


Nach gefühlten Ewigkeiten stehen wir am Meer. Was soll ich sagen.

Vermutlich gibt es NOCH romantischere Orte für eine erste Begegnung mit dem Meer, dem man seit 37 Tagen entgegen läuft, als Lido de Jesolo im August. Es ist … voll. Laut. Man sieht kaum was vor lauter Schirmen. Aber – es ist das Meer, zweifelsfrei. Jetzt schnell Rucksack ins Hotel und rein. Es sind nur noch 10 Minuten die Hotelstrasse entlang bis zu unserem. Die längsten des Tages. Zig Leute drängeln an einem vorbei, österreichische, deutsche und osteuropäische Schrei-Kinder mit Tobsuchtsanfällen, Luftmatratzen und Pool-Nudeln die an einem ranrumpeln. Ich nehme jetzt gleich so einem Saufratzen sein Wasserspielzeug weg!!! Ich brauch ja eh selbst noch welches….Ich komme so ENDSGENERVT und voller Schmerzen an, sage zur Geigerin dass das ja wohl die SCHLIMMSTEN 10 Minuten des Tages waren. Sie korrigiert mich, genauso genervt, „Des TAGES?? Wohl in den letzten 5 WOCHEN!!“


Jetzt müssen wir doch beide lachen. Wir blenden den Tumult jetzt einfach ein bisschen aus. Und gehen Baden. Ins Meer.








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