Lido di Jesolo – Venedig. 23 km. Unterwegs von 6:00 Uhr – 17:15 Uhr, reine Gehzeit ca. 6 Std. Unterkunft in Venedig Hotel Antica Locanda Al Gambero
Jetzt nur keinen Fehler machen, sagte ich mir, als ich um 6:02 Uhr starte. Nicht beim kurzen Bad im Meer von einem Hai gefressen werden, nicht in eine Glasscherbe treten, den kaputten Füßen nicht zuviel Aufmerksamkeit widmen, nicht aufgeben. Aber irgendwie spürte ich es doch schon ganz klar, hier am frühen Morgen: Heute komme ich an. Ich stehe auf den allerletzten Kilometern dieser unglaublichen Reise. Alleine. So wie ich gestartet bin.
Einer der Helden meiner Kindheit war ein Flötenspieler aus Ronja Räubertochter. Dessen Job war es fröhliche Musik zu spielen, um das ganze Gefolge, inklusive der feinen Dame die hinter ihm in einer Sänfte getragen wurde, zu unterhalten. Er war für die Fröhlichkeit und die Leichtigkeit verantwortlich! Und er nimmt diesen Job sehr ernst. Als das Gefolge von den Räubern überfallen wird, die feine Dame im Hintergrund laut kreischt (so entstehen übrigens Rollenklischees, die man von klein auf verinnerlicht..:-)) hält einer der Räuber vor dem immer noch spielenden Flötenspieler und nimmt ihm seine Flöte weg. Steckt sie ein. Er behält sie einfach! Der Spieler zückt eine zweite, kleinere Flöte aus der Tasche, spielt weiter. Der Räuber nimmt ihm auch diese weg. Der Spieler, unbeeindruckt, setzt sein Lied fort indem er pfeifft. Ich liebe diese Szene. Wenn dir das Leben (oder ein Räuber) deine Flöte wegnimmt, dann pfeif!
So ähnlich ging es mir morgens bei der Wahl des heutigen Schuhwerks. Das „Leben“ hat mir nun alle Schuhe genommen. Die Flipflops sind die besten die es je gab, zweifelsfrei. Aber nach über 60 km auf heißem Asphalt sind sie, nun ja, nicht besser geworden. Danke an dieser Stelle an Herrn T. Aus München, der mir zwischenzeitlich schrieb, das Unternehmen habe bereits 2012 Insolvenz angemeldet. Jetzt muss ich wirklich NOCH besser auf mein letztes Paar aufpassen… Es gibt nichts mehr in meinem Rucksack-Schuhschrank was noch geht. Die eigentliche Strecke sieht vor auf der Strasse oben zu gehen bis zum Anlegesteg von Punto Sabbioni, und – wer mag – mal ans Meer zu stechen für ein kurzes Bad. Die Originaletappe wäre heute in Jesolo Ort losgegangen. Wir waren ja viel schlauer und sind bis ans Meer weiter gegangen, haben dadurch ca. 1,5 Std der heutigen Etappe „gespart“ die man aber jetzt anderweitig „investieren“ kann.
Ich gucke nochmal auf die Karte, man kann ALLES am Meer entlang gehen, immer „die Kante entlang“ bis ganz zum Schluss, bis es nicht mehr weiter geht. Länger aber schöner. Dann hochlaufen zur Fähre und DANN muss ich dann nur aufs Boot steigen, das darf ich nicht vergessen! NICHT zurücklaufen, wie damals Forrest Gump. Das ist schnell entschieden. Ich bleibe am Meer, es ist ca. 1,5 Std. Länger, das hat auch die gestern schon angekommene Geigerin bestätigt, die ist auch so gelaufen. Und damit ist auch das „Schuhproblem“ gelöst: Ich kann die ganze Zeit barfuß im Wasser gehen. Und das ist für diesen Tag perfekt. Kühlendes Wasser an den Füßen, ab und zu in die FlipFlops wenn man einen Wellenbrecher umgehen muss. SO wird es gehen. BARFUSs AUF DER LETZTEN ETAPPE. Wie der Flötenspieler. Wenn du keine Schuhe mehr hast, gehst du eben barfuß. Man muss nur fröhlich dabei bleiben!
Mein heutiger Wanderweg – Meer links, Strand rechts, ich dazwischen 🙂
Ich hätte vermutet viel langsamer zu sein so barfuß und im Wasser gehend, aber als ich UNTER der angegebenen Zeit am nächsten Wegepunkt bin, entspanne ich mich. Ich bin um 6 Uhr los, ich hatte gestern am Strand auf die Uhr geguckt, ab 9 Uhr wurde es schlagartig HEISs: bis dahin wollte ich ein mehr als die Hälfte geschafft haben. Aber heute ist ein bisschen bewölkt, das hilft, es bleibt fast bis Mittags „kühl“ dazu eine leichte Brise vom Meer plus die Fuß-Kühlung vom Wasser. Der Himmel legt sich nochmal richtig ins Zeug – es könnte wirklich nicht besser sein.
Ich passiere die letzten „besseren“ Hotels des Strandabschnittes, alles 80ger Jahre Bauten um dann an einem Strandabschnitt mit echten Gruselbauten vorbei zu kommen, teilweise verfallen, teilweise leerstehend, teilweise einfach nur unglaublich was da so steht. Nach diesem Abschnitt kommen den ganz langen Rest des Strandes fast nur Campingplätze. Dort sind die Strände ein bisschen weniger gepflegt, aber es ist alles im Hintergrund bepflanzt, um den Campern Schatten zu spenden, keine Hotelburgen mehr, nur grün. Am angeblich größten Campingplatz Europas, der auch Camping Europa heißt, komme ich auch vorbei. Um 7:40 Uhr halte ich bei „Camping Klaus“ für ein kleines Cappuchino + Brioche Frühstück. Und dann sitze ich da plötzlich 2 Stunden und schreibe. Da will ganz viel raus. Keine Eile. Der Tag und die Etappe werden noch schnell genug vorbei sein.
Ich fühle mich wie der letzte einfahrende Tour de France Fahrer. Alle sind schon durch, niemand den ich „kenne“ ist noch hinter mir. Der Geiger ist am Mittwoch eingelaufen, die Geigerin am Donnerstag, die 4 Männer sind, zumindest laut ihren Kommentaren hier, auch seit gestern da. Wie bei der Tour de France gegen Ende sind die meisten Zuschauer auch schon weg, ein paar wenige feuern noch an. So ein älterer Italiener der seinen Campingstuhl in erster Reihe gleich neben meinem „Wanderweg“ aufgebaut hat. Er spricht perfekt Deutsch. „Nach Venedig? Von München aus?“ „Ja, gleich ist es geschafft.“ „Da ist gestern schon eine vorbei!“ „Das war die Geigerin!“ „Die war aber sehr jung,“ meint er. „sehr SEHR jung!“ ergänzt er. „Ja das ist sie. Aber Prosecco trinken darf sie schon, das ist die Hauptsache!“ erwidere ich. Er scheint sehr genau zu wissen, was an „seinem“ Strand passiert. Ob noch andere durchgekommen sind, will ich wissen. Er überlegt: „Dieses Jahr sehr wenige. Letzte Woche noch ein junges Paar, Studenten, so Mitte 20 vielleicht.“ Er beschreibt sie mir. Oh, das könnten Nr. 11 und 12 gewesen sein, das Pärchen von der Tissi-Hütte. Wie schön, dann haben die es auch geschafft. Ich freue mich.
Nur den Erdkundelehrer, den hat nie wieder jemand gesehen.
Um kurz vor 11 Uhr machen mein Rucksack und ich den ersten Badestop, ich versuche wirklich jede Minute zu genießen und zu spüren. Den Ort wähle ich nicht nur weil der Strand schön ist, sondern weil oben eine coole Strandbar steht, die auch noch gut bewertet ist. Da könnte ich ja nach dem Baden einen Happen essen. Und genauso mache ich es auch, das Meer ist ein Traum heute morgen und die Bar danach ist auch so chillig. Ich esse Melone mit Schinken, trinke einen kleinen Prosecco. Und viel Wasser.
Als ich langsam so gegen 13 Uhr überlege weiter zu gehen und mich anfange zusammen zu packen werden die Lautsprecher-Boxen aufgedreht und was schallert da raus? Das Fluch-der-Karibik-Piraten-Lied!!! Kann man einen Zieleinlauf besser inszenieren als so?? Wie unglaublich motivierend. Aber was ist das? Auf dem Meer nähert sich ein Piratenschiff!! Ich gucke nochmal die Bar genauer an, jetzt sehe ich es, es ist eine PIRATENBAR!! Wie aufregend. Ich laufe zum Strand runter, das ist jetzt wie mit dem silbernen Ford Fiesta und der netten Frau auf dem Staudamm, wenn da jetzt Jonny Depp drauf ist und mich auf seinem Piatenschiff nach Venedig segelt, kann ich das unmöglich ablehnen!!
Aber es ist gar kein echtes Piratenschiff, nur so ein Touri-Ausflugsboot 🙁 Die Gangway wird runtergelassen, 3 dicke deutsche Urlaubs-Kinder mit Poolnudeln rollen herunter. Ein Mann trägt ein Faschingskostüm, tut so, als wäre er ein böser Pirat. Er spielt seine Rolle sehr schlecht. Jeder kann sehen, dass er nett ist. Viele Badegäste steigen ein, ich laufe am Strand weiter. Ein deutsches älteres Ehepaar begleitet mich ein Stück, wollen alles genau wissen über meine Wanderung. Sie sind hier jedes Jahr, diesmal ausnahmsweise im August, weil die Frau gestern Geburtstag hatte und den einmal unbedingt in Venedig feiern wollte. Sie waren vorher noch nie in Venedig, obwohl sie jedes Jahr mehrere Wochen hier auf dem Campingplatz sind. Aber dieses Jahr sind sie endlich mal hin. Weil es ja jetzt so leer ist in Venedig.
Es ist nicht so, dass ich das Donnern nicht schon lange gehört habe, es war laut und häufig genug. Aber, mein Gehirn wollte das nicht verarbeiten, weil schließlich sind wir nicht mehr in den Bergen, wo man ständig das Wetter checken, Hüttenwirte befragen und seinen Tag um das Wetter drumrum planen muss. Ich bin am Strand. Da regnet es nicht. Ich hab mir dann eingeredet, dass Donner-Geräusch kommt bestimmt von den Campingplätzen wo die irgendeine neue Krawall-Sportart ausüben, sowas wie Paintball oder ein Krach-Trampolin oder was weiß ich was bei den Camping-Kiddies dieses Jahr „in“ ist. Irgendwas das sich eben anhört wie Donner.
Diese Theorie hinterfrage ich das erste Mal, als die Geigerin per sms fragt wann ich ankomme und ich antworte, ich mache grad einen zweiten Badestop, und von da wo ich jetzt bin sind es dann noch ca. 1 1/4 Stunden. Sie schreibt zurück ob bei mir denn kein Gewitter sei? In Venedig schon. Ich werde stutzig. Das zweite Mal „irritiert“ bin ich, als kurz drauf ein pfeifender Bademeister in höchster Hektik alle mit seiner Trillerpfeife vom Strand verjagt. 3 Minuten später geht das Unwetter los, aus dem Nichts wirklich. Auch das irritiert mich sehr. Nun ist auch das letzte Stück des langen StrandWeges gestorben, ich stehe zufällig an einem der letzten Punkte wo ich auf den normalen und viel kürzeren Weg hochstechen kann, direkt den Campingplatz vor dem ich gerade stehe hoch. Laut google noch 34 Minuten bis zur Fähre. Ich wechsele noch schnell in die Trekkingsandalen und dann mache ich das, was alle tun:
Ich renne.
Nach 20 Minuten bin ich an der Fähre, total durchgenässt.
Es war kurz mal unheimlich weil schon viel Zeug von den Bäumen runter kam, es war ein richtiger Sturm, ich bin mit Sonnenbrille gelaufen um nichts ins Auge zu bekommen. Auf den Kopf hab ich Gottseidank auch nichts bekommen, aber das wäre ja auch ein zu dämliches Ende gewesen. 3 km vor dem Ziel. Was für eine Show, echt! Als ich in Punta Sabbioni endlich den richtigen Steg gefunden habe, hat das Schiff gerade abgelegt. Fährt vor mir weg, nimmt Fahrt auf, Venedig entgegen. MIST!! Sie gehen halbstündlich und es gießt immer noch in Strömen.
Was ist das? Der Junge, der die Taue verstaut sieht mich, winkt, ruft was nach oben zu seinem Kapitän. Das Schiff kommt zurück! Sammelt mich noch auf!! Und macht sich erneut auf den Weg. Nach Venedig. Diesmal mit mir drauf. Der sehr junge Mann verkauft mir eine Fahrkarte, sie kostet 5 Euro, er ist völlig perplex als ich ihm 10 gebe. Er hat mir gerade eine halbe Stunde in VENEDIG geschenkt!! Er bedankt sich artig, ist aber am Rest meiner Lebensgeschichte jetzt nicht so interessiert. So sag ich ihm nur, dass sein Kumpel der oben sitzt und das Boot fährt, das jetzt bitte, bitte gescheit machen muss!! Nicht untergehen, das geht jetzt GAR nicht. Als jemand der selbst gerne viel liest ist mir schon klar, dass das dramaturgisch genial wäre, mich auf den allerletzten Metern, mit Blick auf den Markusplatz, 40 Meter vor dem Ziel, untergehen zu lassen. Gluck, gluck. Tiefstehende Sonne, sanftes Abendlicht, gluck gluck. „Normalerweise hätte sie das locker schwimmen können, aber der schwere Rucksack, die schweren Bergschuhe ziehen sie langsam auf den Grund der Lagune. Gluck.“ Genial ich weiß, aber ich möchte nicht sterben. Eigentlich am liebsten nie, aber heute schon mal GAR nicht. Ich habe Termine. Prosecco trinken mit der Geigerin. Eine Freundin kommt morgen mit ihrer Familie. Und dann der wichtigste aller Termine: ANKOMMEN. Nach exakt 39 Tagen. Den Markusplatz küssen. Das Boot wird nicht untergehen, sagt der sehr junge Mann. (Fiel dieser Satz nicht genau so auch bei „Titanic“??) Und geht dann nach oben zu seinem Kapitäns-Kumpel, der im Bild. Da bleibt er für den Rest der Fahrt.
Außer einem jungen Pärchen das auf den hinteren Plätzen lümmelt, ist sonstig niemand unter Deck auf diesem großen Schiff. Ich finde eine versteckte Ecke, wo ich mich umziehen kann, man will ja nicht wie ein begossener Pudel am Markusplatz ankommen! Ich bin schließlich gleich im Fernsehen! Eine findige Leserin hier hat herausgefunden, das am Markusplatz eine Webcam hängt, die mit 30 Sekunden Zeitverzögerung alles überträgt. Es gibt zu Hause jetzt in diversen Haushalten gleich ein „Public Viewing“ vom Katharina-Zieleinlauf.
Die Fahrt dauert eine knappe halbe Stunde und dies ist eigentlich die emotionalste und schönste des Tages. Weil ich jetzt nichts mehr machen kann. Ich habe das Ende des Festlandes erreicht. Weiter konnte ich nicht laufen. Ich bin quasi allein auf dem Boot, Ruhe, Dankbarkeit, Vorfreude, Stolz. Die Umrisse von Venedig tauchen bald auf, ich gehe raus, es hat aufgehört zu regnen. Also am Himmel, bei mir fließen die Tränen ungebremst. Ich weiß nicht warum der Himmel das macht, es kommt mir vor als sei das alles so perfekt inszeniert. Ich fühle tiefe Dankbarkeit. Auf der einen Seite hängen noch dunkle Gewitterwolken, über Venedig schimmert goldenes Licht. Wie ein Sonnenaufgang und das Nachmittags um 17 Uhr. Das ist so unfassbar schön.
Am Freitag, den 14.08.2020 um 17:07 Uhr betrete ich venezianischen Boden.
Den Weg zum Markusplatz versuche ich in Zeitlupe zu gehen, alles aufzusaugen. Die Luft ist so angenehm frisch, klar, kühl. Der Boden noch nass, ein helles, sanftes Nachmittagslicht begleitet mich diese aller-letzten Meter zum Markusplatz. Fast keine Menschen, der Regen hat die wenigen Touristen in irgendwelche Bars oder zurück in ihre Hotels gespült.
Und dann stehe ich da. Auf einem ziemlich leeren Markusplatz. Ich bin wirklich, wirklich da.
Nach einer Minute fällt mich von hinten eine Geigerin an. Wir haben es beide geschafft! Sich gemeinsam freuen ist noch viel schöner. Dann die ersten SMS „ich kann dich SEHEN! Wink mal!“ Die gelbe Regenjacke hilft wohl. Der leere Platz auch. Gleich neben der roten Säule stehen wir und winken. Screenshots diverser „Zuschauer“ erreichen uns 🙂 Das ist echt schräg…
Die Geigerin ist total begeistert davon und jetzt gucken wir uns selbst über das Handy und über die Markusplatz-Webcam beim dort stehen und winken zu. Wir machen noch ein paar Zieleinlauf-Beweis-Fotos, dann rennt sie weiter, ihre Eltern kommen auch gleich an, die will sie in Empfang nehmen. Die haben spontan ihren Österreich-Urlaub weit in den Süden ausgedehnt, um ihre Tochter abzuholen.
Ich lasse mich auf dem Boden nieder. Jetzt ist doch alles ein bisschen viel und die Beine wacklig. Ich bin wirklich da. ICH!! Das ist so surreal. Das ich das schaffe war einfach so….. unwahrscheinlich!
45 Sekunden später steht ein sehr offiziell wirkender Herr vor mir, sagt das darf ich nicht. Was denn? Na auf dem Boden sitzen. Das ist auf dem Markusplatz verboten. Er trägt ein T-Shirt da steht drauf, man muss Venedig respektieren, mit einem Hashtag sogar, dann spricht das auch die Jüngeren an. Also mich 🙂 #RespectVenezia steht da. Er ist sehr freundlich, also stehe ich stöhnend auf. Er ist erleichtert. Seine Menschenkenntnis hat ihm wohl verraten, dass ich gerade nicht auf der Mittelspur meines Verstandes unterwegs bin, sondern schon seit Tagen außerhalb der Leitplanken fahre, in den Grenzbereichen meines Gehirns, knapp am Rande des Wahnsinns. Vor Schmerz, vor Freude, und dann wieder alles gleichzeitig.
Ich überlege ob ich ihm erzählen muss, dass NIEMAND diese Stadt so sehr respektiert wie ich, die auf ihren eigenen blutigen Füßen, zuletzt barfuß, in diese Stadt gelaufen ist, einen Holzkreuz-schweren Rucksack auf ihrem Rücken. Er kann mich Jesus nennen, wenn er mag, aber doch nicht RESPEKTLOS gegenüber DIESER STADT! MICH!
Ich sage aber nix, Regeln sind Regeln, da sind wir Deutschen ja sonst auch ganz groß drin. Wenn die Italiener jetzt auch mal eine Regel haben, dann muss man sich daran halten. Sonst kann die EU nicht funktionieren! Ich leiste also mit meinen widerspruchslosen Aufstehen meinen Beitrag zu einer funktionierenden EU, er nickt mir nochmal freundlich zu, geht weiter, auf der Suche nach weiteren Respektlosen. Ich glaube, ich war die Einzige heute. Die einzige Respektlose, aber auch die einzige ankommende München-Venedig-Geherin. Mit 30 Sekunden Zeitverzögerung die nächste SMS „Was wollte denn der Carabinieri eben von dir???“ Seufz, vielleicht bin ich doch gegen dieses Video-Überwachungs-Dings.
Nun ist aber die WICHTIGSTE Frage des Tages auch entschieden, gehe ich ins Café Florian oder nicht. Selbstverständlich, weil sitzen muss ich jetzt, sitzen und aufsaugen. Warum habe ich den Verdacht, dass die am Markusplatz ansässigen Cafés bei der Formulierung dieser „Respekt-Klausel“ ein großes Wörtchen mitgeredet haben? Ist jetzt nur so ein Gefühl….
Das Café Florian ist laut Wikepedia das älteste Kaffeehaus Italiens, laut einem Reiseführer das älteste Europas, laut deren eigener Website das älteste der Welt. Ich nehme diese Variante, das klingt am besten. Ich blende aus, dass man uns das in Wien, Budapest und Buenos Aires auch schon erzählt hat, diese Geschichte mit dem ältesten Kaffeehaus der Welt. Das Café Florian, das angeblich Woody Allen’s Lieblingscafé sei. Indem schon Richard Wagner, Marcel Proust, Thomas Mann und… Casanova saßen. Die sind heute aber alle nicht hier, das kann ich mit Bestimmtheit sagen. Es ist nämlich GAR niemand hier! Nur ich. In der Sekunde als mein Hintern den Stuhl berührt haut die Pianistin in die Tasten. Ein Piano haben sie sogar wegen mir aufgestellt! Eine Geige kommt dazu. Die Geigerin ist leider schon weg, sie könnte mir sicher sagen WAS sie spielen und vor allem ob das dem Anlass angemessen war. Ich hätte ja lieber das Piratenlied nochmal gehört, aber nun gut. Diese Musik-Einlage wird später mit 5 Euro auf meiner Rechnung stehen. Günstig für so ein Privatkonzert.
Und dann, die wichtigste Frage: Werde ich hier meinen 12 Euro Espresso trinken können? Und die Antwort: Nein. Er kostet nur 8 Euro. Das ist enttäuschend. Der Cappuchino 10,50. Schon besser. Was sehe ich da? Ein Glas Prosecco 12 Euro. Mal ehrlich: Wenn ihr die Wahl habt zwischen einem Cappuchino für 10,50 und einem Prosecco für 12 Euro, was hättet ihr gemacht? Ich auch. Keine Schiffstaufe, kein Formel 1 Sieg wurde je mit Cappuchino begossen. Es dauert EWIG bis ich bestellen kann, EWIG bis mein Prosecco kommt. 3 Kellner, ein Gast. Vielleicht haben sie sich so lange gestritten, wer mich bedienen darf…? Egal. Ich bin ja auch nicht Woody Allan oder Thomas Mann. Nur ein No-Name-Alpenüberquerer. Mit viel Zeit. Ich kann warten. Chips bekomme ich auch noch zu meinem Prosecco, als er dann irgendwann kommt. Und Oliven! Phantastisch.
12 Euro Prosecco, 5 Euro Musik, ich gebe 20. Was ich dafür alles bekommen habe! Die ganze Terrasse des berühmten Cafés für mich allein, zumindest die erste halbe Stunde. Prosecco. Oliven. Ein Klavierkonzert. Diese Stadt ist sehr günstig…
Der Mann und ich hatten am Donnerstag Abend noch beschlossen, dass es wirklich ein Krampf ist, dass er – eine Woche nachdem er hier war – jetzt nochmal für das Wochenende runterkommt, 2 Tage und dafür 15 Stunden im Zug sitzt. Das ist zeitlicher und finanzieller Unsinn. Am Freitag morgen, auf dem Weg ins Büro hat er am Bahnhof dann doch spontan einen Zug gebucht. Er kommt um halb 10 an, fragt ob wir jetzt schon ein Hotelzimmer haben? Ja so langsam wird es Zeit, inzwischen ist es nach 19 Uhr. Ein Bett zu organisieren wäre jetzt mal ganz gut. Ich gehe Richtung der beiden Hotels, die ich eh im Auge hatte, mein Favorit nennt mir fast den doppelten Preis für ein Zimmer, als es bei Booking.com aktuell drin steht. Als ich freundlich sage, dass ich dann doch lieber bei Booking buche, kostet es plötzlich 5 Euro WENIGER als bei Booking. Mir ist sowas echt zu doof. Ich gucke mir ein Zimmer dort an, fühle mich überhaupt nicht wohl, ich gehe ins andere. Die nennen mir gleich einen vernünftigen Preis, das Hotel ist entzückend, in perfekter Lage zwischen Markusplatz und Rialtobrücke. Ich brauche das jetzt, wenigstens die ersten 2 Tage, dieses „mittendrin in Venedig-Wohnen“-Gefühl. Ich nehme ein Zimmer mit Blick auf den Kanal, aber ohne Frühstück. Das ist in italienischen Hotels ja eh selten herausragend und ist jetzt Coronabedingt eigentlich nur nervig. Ich frühstücke lieber in irgendeiner Bar auf einem schönen Platz, mit Cappuchino und Brioche. Vor allem in Venedig.
Wir essen auf einem schönen Platz zu Abend, ich freue mich jetzt so dass der Mann da ist um sich mit zu freuen. Wir sitzen schön, haben sehr netten Service, das Essen ist ok, wir zahlen viel. Aber das wird die nächsten Tage noch besser werden, das muss man in Venedig erst ein bisschen üben.
Was für ein langer, tiefer und reicher Tag. Wieviel Leben kann in einen Tag reinpassen? Der „Zeitforscher“ Marc Wittmann untersucht das Phänomen, wie unterschiedlich man Zeit empfindet: „Je mehr Impulse wie in einer gewissen Zeitspanne mit unseren verschiedenen Sinnen wahrnehmen, desto länger ist ihre subjektive Dauer. Je weniger Impulse wir wahrnehmen, desto schneller geht das Leben an uns vorbei.“ Es waren heute sehr viele Impulse. Ich habe nur ein bisschen Angst, dass die Erinnerungen an die Berge verblassen, keinen Platz mehr im Kopf und im Herzen finden, weil immer Neues, Schönes sich darüber legt. Ich bin gerade so dankbar diesen Blog zu haben, viele Momente zumindest grob skizziert zu haben. Das Netz vergisst nichts, sagt man drohend den Jugendlichen, wenn sie peinliche Bilder von sich posten. Heute bin ich darüber sehr sehr froh!
Das mit der Zeit, wie sie sich ausdehnt, das habe ich eigentlich die ganze Tour so empfunden. Es wird mir nur jetzt gerade bewusst. Wie unglaublich lang und tief jeder Tag war. Meister Hora, der aus Momo, sagt etwas ganz ähnliches wie Wittmann, nur poetischer: „Und alle Zeit, die nicht mit dem Herzen wahrgenommen wird, ist so verloren wie die Farben des Regenbogens für einen Blinden oder das Lied des Vogels für einen Tauben. Aber es gibt leider blinde und taube Herzen, die nichts wahrnehmen, obwohl sie schlagen.“
Ein bisschen besser „Hören“ und „Sehen“ und Zeit mit dem Herzen wahrnehmen, das habe ich auf dieser Reise vielleicht gelernt.
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