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Traumpfad München – Venedig Tag 22. Auf der härtesten Etappe zum höchsten Punkt der Reise



Grödner Joch – Piscaduhütte – Piz Boe. Schmerzhaft steile 1.555 Hm rauf, 554 Hm runter, 12 km. Unterwegs von 7:30 Uhr – 16:00 Uhr, Gehzeit ca. 7 Std. Unterkunft Capanna Fassa


Ich grüße euch von 3.154 Meter (in unserem Lager unterm Dach zeigt der Höhenmesser sogar 3.164 Meter an). Es begann lieblich, wurde schnell schmerzhaft. Diese Etappe war für mich vom technischen und konditionellen Anspruch her die mit ABSTAND Härteste. Das sie wohl wunderschön war, hab ich zum Teil nur Abends auf den Bildern gesehen. Und daraus geschlussfolgert, dass der Mann ständig Fotos gemacht hat – normalerweise ist die Rollenverteilung umgekehrt. Damit ihr beim Lesen nicht zu viel Angst bekommt, nehme ich das Ende vorweg, wir sitzen hier im Rifugio Capanna Fassa, die höchstgelegene Hütte der ganzen Tour, draußen tobt ein Gewitter, wir hier drin, sicher, satt und einen Limoncello aufs Haus gab es auch schon.


Ich staune dann doch nicht schlecht, als wir morgens für dieses wirklich sehr einfache italienische Mittelklassehotel am Grödner Joch, und dem sehr aus der Zeit gefallen gestrigen Abend-Menü mit zwei Gläsern Wein beim Aus-Checken fast 300 Euro bezahlen. Wir hätten in den Alpengasthof gegenüber gehen sollen, da war der 23 Kg Gepäck-Mann und hat ein Drittel fürs DZ bezahlt. Und sich lustigerweise auch beschwert, dass er lieber in unserem Hotel gewesen wäre, die hatten aber nichts mehr frei.


Die Entscheidung am Grödner Joch zu übernachten fanden wir hingegen alle perfekt, sowohl von der Länge der Etappengestaltung als auch weil man das eine Massiv „abschließt“ bevor man dann am nächsten Tag in das Neue aufsteigt. Wir hätten einfach nur Hotel-Zimmer tauschen sollen 🙂 Und Abends beim runterkommen dem ersten Impuls folgen, dort in der Sonne in „Jimmys Hütte“ ein paar Meter oberhalb unseres Hotels ein frühes Abendessen zu nehmen, einen Berg Nudeln oder Polenta zu essen, kurz im Hotel anzurufen es wird nach 18 Uhr und gut. Aber man hat dann doch diesen „man will ankommen“-Impuls nach einem langen Tag, will duschen und sein rotes Bergkleid anziehen 🙂


Frühstück gibt es erst ab acht (im Alpengasthof gegenüber schon ab 7 Uhr…), wir wollen aber früher los, wissend der Tag bietet uns beiden ein paar Herausforderungen. Mir wieder steile Anstiege, für die ich meist länger brauche, dem Mann einen erneuten Klettersteig wo er sich wegen nicht ganz schwindelfrei immer ein paar mehr Gedanken macht. Da will man ein bisschen Puffer haben. Um 7:30 Uhr sind wir also schon wieder unterwegs, die wirklich sehr nette Dame an der Rezeption macht uns noch einen schnellen Kaffee und stellt uns ein paar Kekse dazu. Wir wollten eh an der Piscadu Hütte ein zweites Frühstück zu uns nehmen, dann wird es halt das Erste. Diese sollte nach ca. 2 Stunden erreicht sein und liegt wunderschön an einem See. Ich habe meinen Bikini an und werde heute endlich baden …






Der Tag ist schon wieder so strahlend blau und schön, auf einem begrünten Bergrücken laufen wir, das Tal zu unserer linken, den Sellastock zu unserer rechten dem schönen Morgenlicht entgegen. Bald kommt der „Eingang“ in das Felsmassiv. Mal wieder ein Schuttkar-Geröllfeld-Aufstieg die ersten paar Hundert Höhenmeter, bevor dann ein erneuter Klettersteig kommt. Der sei deutlich einfacher wie die gestrige Nieves-Scharte, länger und steiler, aber leichter zu gehen. Heute ist echt viel los, viele Wanderer starten mit uns, überholen, einige kommen sogar von oben schon wieder runter. Rechts und links steil aufragende Felswände, ich finde es wie immer … mühsam, anstrengend. Ich kann bald keine sandigen, steilen, kargen, rutschigen Kar-Aufstiege mehr sehen.




Kurz vor dem Einstieg in den Klettersteig ist ein winziges Schneefeld, nichts Schlimmes. Aber irgendwie passieren jetzt ein paar Dinge gleichzeitig. Es ist plötzlich so steil, dass ich nicht weiß, wie ich den nächsten Schritt setzten soll. Es ist rutschig. Durch den Schnee ist auch der Sand davor und dahinter nass. Ich finde mit den Stecken keinen Halt, sie rutschen mir ein paar mal weg. Ich bekomme plötzlich Angst. Einfach so. Die Stecken, die sonst zusätzlichen Halt und Sicherheit geben sind plötzlich zwei zusätzliche „Füße“ die abrutschen können und dies auch tun. Es gibt keine „Parkbucht“ um die hinter mir vorbei zu lassen was mich vorher schon schneller gehen ließ, als ich es normal getan hätte. Es ist so anstrengend, dass ich keine Luft mehr bekomme, mir geht der Hals zu.


Das hatte ich bislang einmal in meinem Leben, (das war auch beim Wandern), dass ich wirklich dachte ich muss ersticken, als ob mir wer den Hals zudrückt. Zeitgleich ist mein Kopf plötzlich voller Bilder, dass ich hier jetzt sofort falle, das ganze lange Geröllfeld hinunter. Ich fange plötzlich an zu weinen, bekomme immer noch keine Luft durch den gefühlt zugedrückten Hals. Der Rucksack ist wacklig und verstärkt jede (falsche) Bewegung. Irgendwie bugsiert mich der Mann hinter einen Felsen, wo ich sicher sitzen kann, den Rucksack runternehmen und erstmal wieder versuchen kann ruhig zu atmen. Wie durch einen Nebel bekomme ich mit, wie andere Wanderer Wasser und was zu Essen anbieten, irgendwer erklärt dem Mann, das sei aber schon noch weit und steil, er solle mit mir lieber umkehren. Wenn ich eine Sache sicher weiß, dass ich durch dieses Kar niemals zurück ABSTEIGEN werden, niemals. Sollte der Mann gleich feststellen, dass er den Klettersteig heute nicht gehen kann, dann muss er allein umkehren und wir treffen uns irgendwo. Ich esse ein bisschen was (das ausgefallene Frühstück und das Mini-Menü gestern waren vielleicht doch nicht die ideale Grundlage für diesen kräftefordernden Tages-Start) Und dann geht es langsam wieder. Was war das?? Wie kann einem der Kopf so einen Unfug vorgaukeln?


Der Mann bietet noch ein paar Mal an meinen – deutlich schwereren – Rucksack zu nehmen und dass wir tauschen. Aber das geht gar nicht, meine Angstetappe ist vorbei, seine ist der Klettersteig und kommt jetzt. Da soll er nicht mit fremden, schwereren Rucksack gehen. Der Klettersteig ist nach einer halben Stunde ohne „Ausfälle“ geschafft, ich stelle mal wieder fest, dass mir das eigentlich Spass macht.






Als wir oben auf dem Plateu ankommen, einen wunderschönen Rundumblick, ist das der leichteste und unbeschwerteste Moment des Tages, erst recht als ich das Schild „Piscadu-Hütte 5 Minuten“ sehe! Wir machen ein paar Fotos, treffen München – Venedig Wanderer Nummer 7 und 8, ein Rentner-Ehepaar. Sie hatte den ganzen Klettersteig hoch geschimpft, dass sie da ja schließlich 80 Kilo hochziehen muss, an jedem einzelnen Felsen hat sie das wiederholt. Ich staune wieder mal, als wie unterschiedlich „schwer“ Menschen Dinge empfinden können. Auch der Mann fand das nicht schlimm, es gab eine sehr kurze ausgesetzte Stelle, die aber mit einem Schritt überwunden war.




Die Piscaduhütte liegt wirklich traumhaft schön an einem See. Ich werde aber WIEDER nicht baden…Irgendwie fließt da dieses weisse Zeug hoch oben vom Berg direkt als Schmelzwasser rein… In einer Ecke auf der Terrasse sitzt der 23 kg Gepäckträger Mann und macht mit nacktem Oberkörper einen auf Italiener. Es ist das selbe Ritual wie seit ein paar Tagen, er geht nach uns los, holt uns irgendwann ein, geht ein paar Schritte mit uns um dann auf der nächsten Hütte schon einen Platz frei zu halten. Damit ist’s jetzt vorbei, er will heute noch auf den Piz Boe und steigt dann auf den Pordoi Pass ab. Von da will er „irgendwie“ nach Alleghe kommen, wo er seine Familie trifft. Wir werden uns also gleich verabschieden. Aber erstmal FRÜHSTÜCK.



Es gibt Speckbrot und Apfelkuchen der GRAD aus dem Ofen kommt! Die Lebensgeister kehren zurück. Der 23 kg Gepäckträger Mann, der sonst immer Zeit hat für sicherheitshalber einen vierten oder fünften Gang Essen hat es plötzlich eilig. Er will unbedingt noch auf den Piz Boe, es seien Gewitter gemeldet, man weiß ja wie schnell das hier umschlägt in den Dolomiten. Wir verabschieden uns, er zieht mit seinem übermächtigen Gepäck am Rücken, anhand dessen man ihn immer schon von Weiten erkannt hat,  von dannen. Ich frage kurz drauf den Wirt der Hütte, was er glaubt bzgl. Des Wetters, WANN denn das Gewitter heute kommt. Er sieht mich ratlos an. „Ihr mit euren Wetter-Apps. Guck doch mal BITTE in den blauen Himmel!! Wo soll denn DA ein Gewitter herkommen, hm?“ Diese italienischen Hüttenwirte sind irgendwie Wetter-Agnostiker und ich fühle mich jetzt ein bisschen dumm. Ich weiß auch nicht. Soll ICH IHM jetzt wirklich den Vortrag halten, den ich vor meinem Start gefühlte Tausend Mal zu hören bekam? Dass das Wetter in den Bergen innerhalb von Minuten umschlagen kann? Schwerste Gewitter, Hagel und 10 Minuten später schon wieder Sonne? Die dann aber möglicherweise einem Schneesturm mitten im August weicht? Keine Seltenheit, so sagte man mir! Gut, andererseits, es ist ja noch Juli…Vielleicht ändert sich im Juli das Wetter nie plötzlich…






Wir gehen trotz der Blau-Himmel-Prognose des Wirtes auch bald weiter. Es wird wieder steiler, ich bin heute nicht in Top-Verfassung. Alles geht schwerer. Es kommt noch ein Klettersteig, der nirgends groß erwähnt oder diskutiert wird, den wir beide eigentlich bislang am schwersten finden, weil mit großen Schritten versehen, die Kraft wird langsam weniger, das eigene Gewicht plus das des Rucksacks wollen aus dem Oberschenkel und den Armen heraus nach oben gewuchtet werden. Eine Stelle ist sehr stark ausgesetzt an einem blanken Felsen entlang mit Tritten versehen, die zu weit auseinander sind. Es gibt ein Seil, aber das in jedem München – Venedig Forum die gestrige „Nieves-Scharte“ ausgiebig von allen diskutiert wird, und das hier nicht mal einen Namen hat, wundert uns dann doch. Aber auch das ist bald geschafft und ein kleines Hochplateu erreicht. Pause. Hier geht es zum Cima Piscadu ab, einem wohl sehr beliebten Klettersteig. Der kleine Berg sieht aus wie ein Bienstock und viele bunte Neon-Bienen turnen an diesem herum. Wir müssen auf der anderen Seite weiter.


Obwohl wir uns Zeit lassen und oft kurz anhalten, liegen wir fast genau in der ausgeschriebenen Zeit. Das hätte ich heute wieder völlig anders eingeschätzt… Nächster Anstieg. Und dann stehen wir plötzlich auf dem offiziell höchsten Punkt der München – Venedig Etappe – mitten in einer unwirklichen Mondlandschaft. 2.952 m.



Das heutige Beitragsbild zeigt dies. Wir gehen ja dann noch höher, aber dies ist der „offiziell“ höchste München – Venedig Punkt. Wenn ihr auf dem Bild weiter nach hinten guckt und das winzige Dach seht – da müssen wir heute noch hin.








Ein paar wenige gelbe Blümchen schaffen es in dieser Steinwüste Mut zu spenden, es sind dieselben die uns das Hotel Cir gestern als Deko auf den Teller gelegt hat. Der Mann ist begeistert und sieht hier ganz klar eine James  Bond Kulisse. Er entdeckt unten ein Plateau und WEISs das ist eine Attrappe, darunter sitzt Bösewicht Bloofeld mit seiner Katze und feilt an der Weltherrschaft (Gibt es diese Folge nicht schon? Wo dieser Vulkankrater-See gar kein grüner See war sondern per Fernsteuerung geöffnet werden konnte? Und darunter ein geheimes Labor? Welcher war das gleich wieder??) Es sieht so völlig anders aus, als alles bislang auf dieser Tour. Wieviel Schönes und Unterschiedliches wir allein in den letzten 4 Tagen gesehen haben! Über uns kreist ein schwarzer Hubschrauber, ich denke, hoffentlich ist niemandem was passiert. Und dass wir jetzt aber bitte auch echt aufpassen, dass WIR den Rest auch noch unfallfrei schaffen. Der Mann hingegen deutet nach oben und ruft begeistert:  „James-Bond-Hubschrauber!“


Der Rother Wanderführer – bislang mein liebster und verlässlichster Begleiter – entwickelt sich auf dem letzten Teilstück dieser Etappe zum Eschbach-Roman. Ich lese Andreas Eschbach unglaublich gern, er hat immer aktuelle Themen die er nicht nur spannend und intelligent, sondern aus so vielen verschiedenen Blickwinkeln aufbereitet. Oft habe ich während des Lesens meine eigentlich feststehende Meinung zu einem Thema 48 mal geändert. Eschbach könnte es vielleicht schaffen, dass ich mich in die Sichtweise von Snowboardern eindenken könnte und am Ende vielleicht sogar glauben würde, sie hätten auch eine Daseinsberechtigung auf der SKI-Piste. Gottseidank hat er dieses brisante Thema bislang noch nicht aufgegriffen. An das gespaltene Verhältnis zwischen Skifahrern und Snowboardern traut sich nicht mal ein Eschbach ran. Er schreibt lieber über politisch unverfängliche Themen wie Religion, das Ende des Ölzeitalters, Selbstjustziz und den US Wahlkampf. Was Eschbach aus mir unerklärlichen Gründen oft NICHT kann, ist ordentliche Schlüsse schreiben. (Die grossartige Ausnahmen sind „das Jesus-Video“ und „Der Jesus-Deal“) Ich habe oftmals den Eindruck, er musste abgeben, hatte noch ne Woche und hat seinen 5 jährigen Sohn schnell was zusammen fabulieren lassen. Der Billionär war so ein Meisterwerk was dann so unglaublich abfiel auf den letzten 20 Seiten, einem Wirecard-Chart gleich! Herr aller Dinge genauso!  Also was die heutige Rother-Etappe mit Eschbach gemein hat ist der unvollständige und schlechte Schluss. Schreibt er allen ernstes:

„Für den konditionsstarken Wanderer bietet sich noch ein Abstecher auf den Piz Boe an, tolle Ausblicke, tolle Sonnenauf-und Untergänge“. WIR müssen da eh rauf, ob konditionsstark oder nicht, weil die eigentliche Hütte, die Boe-Hütte die eine Stunde vorher kommt immer noch wegen Umbau geschlossen ist.



(Und als wir an dieser vorbei laufen werd ich kurz sauer! Man hatte mir den ganzen Juni lang gesagt, ich soll in einer Woche nochmal fragen, bestimmt sei dann offen und für Juli buchbar. Es ist HEUTE noch eine Großbaustelle mit Kran und ohne Dach!!! Italiener!!)

Auf dem Piz Boe liegt die winzige 22 Betten Hütte Capanna Fassa, in der es wohl nie freie Betten gibt, irgendwie hatten wir (schon wieder mal) Glück! Da wir 3 Stunden der heutigen Etappe ja gestern schon gelaufen sind und sie heute somit verkürzt ist, dachte ich die eine Stunde mehr, passt. Der Rother schreibt was von 50 Minuten bis zum Gipfel, spätestens am nächsten Tag soll man diesen Gipfel unbedingt noch mitnehmen. Er lässt aber den Teil mit der Geröll-Hölle weg, wie unfassbar steil das jetzt, nach diesen langen Tag und schon über 1200 Hm steilstes Hoch und diversen Klettersteigen noch wird, dass man immer abrutschen wird, ein dämliches Schneefeld passieren muss, er lässt das alles weg. Und baut als schnell hineingebastelten Schluss nur hin, oben sei es doch schön. Eschbach-Syndrom, Klarer Fall von Abgabedruck vom Verlag! Ich fühle mich so… reingelegt. Hintergangen!


Ich bin nicht nur körperlich „durch“, sondern inzwischen auch mental. Ich merke das z.B. daran wie sehr mir auf dieser letzten Etappe erstmals diese Horden von quatschenden Italienern auf die Nerven gehen, die so tun als wäre das hier alles ein Kindergeburstag. Gut, die meisten von ihnen kamen auch mit der Bahn um die Ecke hoch. Sie stehen in großen Gruppen in wirklich jeder Engstelle rum und…quatschen! Das  sind im Winter alles Snowboarder, ich sollte dankbar sein dass sie da nur stehen und nicht mir ihren Brettern an den Füßen nebeneinander eine Sitz-Barriere bauen, wie sie das im Winter immer tun. Während der Deutsche morgens ordnungsgemäß seine Neon-Kleidung und seine GPS Uhr anlegt, seine Wetter-Apps checkt und sich mit schwerer Ausrüstung da hoch kämpft, steht die Italienerin in Hotpants und Top mit bunten Sneakers an den Füßen Partymäßig rum, es fehlen echt nur die Häppchen und der Prosecco.


Eine Gruppe italienischer Jugendlicher betreibt  – während ich mit der dünnen Luft und generell dem Überleben kämpfe –  Stonesurfing und rutscht neben mir vor Freude kreischend das Geröllfeld runter. Mein italienisch ist zu schlecht um sie zu beschimpfen.

Es ist für mich die steinerne Hölle, ich kann jetzt nach diesem langen und emotional wie körperlich unfassbar anstrengenden Tag einfach nicht mehr. Als ich auf einem Stein zusammenbreche sagt die Höhenmeter-App: 3.057 hm. Es sind nur noch 100 hm. Ich werde JETZT wirklich nicht aufgeben. Aber ich muss kurz atmen. Ist diese Mist-Luft dünn. Als wir um halb 4 die Capanna Fassa erreichen und noch eine Stunde in der Sonne auf der Terrasse sitzen können, kann ich mich lange noch nicht so richtig freuen, es wird noch eine ganze Weile dauern, bis die Anspannung abfällt.



Die Hütte ist winzig und unglaublich süß. Der Mann spricht aus was ich denke: „Wieso baut man sowas HIER OBEN??“ Ein kleines Stück weiter unten, wo auch die Boe Hütte steht ist soviel Platz. Wieso hier auf diesem Geröllhaufen? Wir verbuchen es unter „Babylon-Syndrom“, menschlicher Übermut. Die Treppe zum Schlaflager ist seilversichert und mega steil. Gut dass wir Klettersteig heute den ganzen Tag geübt haben.



Auf besagter Treppe, dem Klettersteig zu meinem Schlaflager, sitzt mir eine „mittelblonde“ Frau im Weg. Ich frage sie ob sie mal Erasmus in Berlin gemacht hat. Sie sagt erstaunt „ja“ ich richte ihr Grüße von den beiden Studenten aus, darum hatte sie mich heute morgen per SMS gebeten. Ich werde ja noch so was wie die Alpenvereins-Brieftaube. Mein Bruder hat gesagt ich soll dem Sepp auf der Tutzinger Hütte Grüße ausrichten, der Sepp war zwar an dem Abend nicht da, aber der Hans, der bestätigt hat dass der Sepp heute nicht da ist. Der Hans hat gesagt, ich soll der Evi von der Halleranger Alm schöne Grüße ausrichten, und dass sie ja die schönste Hüttenwirtin weit und breit sei (was ich sicherheitshalber auch ausgerichtet hatte.) Und jetzt soll ich halt einer mittelblonden Frau Grüße von den beiden Studenten ausrichten. Check, erledigt. Eine weitere berufliche Möglichkeit tut sich auf. Hütten-Gruß-Brief-Taube. Ich werde darüber nachdenken.



Wir sind früh dran – ich darf mir aussuchen wo wir schlafen wollen, es stehen zwei eng nebeneinander gebaute 3-er Matratzenlager zur Auswahl. Wo Corona-bedingt nur wir zwei reindürfen…. Es gibt eine Holzwand und einen Vorhang, mehr Privatsphäre geht in einem Lager wirklich nicht! Alles gut! Es gibt kein Bad, nur kaltes Wasser und ein Stehklo. Egal. Ich bin immer noch angespannt, ich schlafe ein bisschen und danach lese ich die Speisekarte. Das entspannt mich immer. Es hieß es gibt a la Carte, oft gibt es ja auf den Hütten auch fertige Menüs, für alle dasselbe. Ich überlege was ich heute Abend essen mag. Und lande bei Polenta mit Pilzen UND gebackenem Käse. Perfekt. Ich freue mich schon.


Eine wirklich sehr nette ganz blonde Frau (die mittelblonde ist irgendwann weg) sagt uns später, wir sollen für heute Abend wählen, es gibt ein Menü für alle. Mir fällt das Gesicht runter. „Ich wollte doch Polenta mit Pilzen und Käse essen“ sage ich, den Tränen nah… Sie lacht, „na da hast du Glück, das steht zur Auswahl, es gibt als Vorspeise Pasta mit Pesto oder Alio Olio. Als Hauptgericht Gulasch mit Knödel oder du kannst Polenta mit Pilzen oder Polenta mit Käse haben“. Der Satz war fast perfekt. Mein Gehirn meldet ein Störsignal. „geht auch UND?“ frage ich in meiner freundlichsten Stimme. Die blonde Frau sagt nein. Jetzt tickt was in mir aus. Der Tag war zu hart. Ich KANN keine Zugeständnisse beim Essen machen, nicht heute, es geht einfach nicht! Ich will Polenta mit Käse UND Pfifferlingen, UND. UND! UND!! UND!!! Nicht ODER!! Ich könnte gar mehr entscheiden ob Käse ODER Pfifferlinge. Diese Niederlage KANN ich heute nicht mehr wegstecken. Ob der Tag ein gelungener war oder nicht wird sich jetzt in diesem Moment an dieser Frage entscheiden. Sie überlagert ALLES.  Ich bringe 25 Jahre Verkaufs-und Rhetoriktraining +  ALL mein psychologisches Geschick in die Diskussion ein. Sollte das nicht reichen – ich habe noch einen Rucksack voller Bargeld dabei, den brauch ich eh nicht mehr – niemals werde ich von diesem Geröllhaufen hier wieder absteigen können. Als ich gerade noch ein paar Wirecard Aktien in die Verhandlungen einbringen will, lenkt sie seufzend ein. Ich wollte wirklich nicht mehr „kompliziert“ sein, ich habe auf dieser Reise von so vielen Köchen und Wirten gehört, wie schwierig wir Gäste doch manchmal sind. Manche schmeißen hin wegen uns, haben genau deswegen an einem Job der ihnen mal Freude gemacht hat selbige verloren. Ich wollte fortan immer einfach sein. Aber es ist doch ganz einfach Pilze UND Käse auf einen Teller zu packen?



Ich bin heute Scarlett O‘ Hara und sage mir, Morgen ist auch noch ein Tag! MORGEN werde ich ein unkomplizierter Gast. Habt ihr das eigentlich mitbekommen? Das „Vom Winde verweht“ neu übersetzt wurde? Es war ein großes Projekt, jetzt heißt es „Vom Wind verweht“ – das Dativ-E ist weggefallen. Als ich zum ersten Mal davon las dachte ich mir nur, ob wir eigentlich sonst keine Probleme auf der Welt haben als diesen alten Schinken aufwendig neu zu übersetzen. Dann hörte ich zufällig ein echt interessantes Interview mit den beiden Übersetzern, die privat ein Paar sind, und wie unglaublich wichtig ihnen das ganze Projekt war. Sie haben viele der aus heutiger Sicht sehr rassistisch klingenden Beschreibungen einfach weggelassen oder umgeschrieben.

Darf man das? Einen Roman nachträglich auf die heutige Zeit ideologisch „anpassen“? Mein erster Gedanke war „nein“, weil es doch genau die damalige Zeit und deren Denkweise beschreibt. Und auch die Autorin! Wenn ich ein rassistisch denkender Autor bin, können mich irgendwelche Jungspunde doch nicht 100 Jahre später nachträglich belehren und korrigieren? In meinem eigenen Werk! Wo kämen wir hin, wenn z.B. Nach meinem Ableben jemand hier alle Kommas richtig setzt?


Die Übersetzer argumentieren, dass sie aus vielen Briefen der Autorin klar schlussfolgern, dass diese niemals auch nur ansatzweise rassistisch gedacht und gehandelt hat und hätte, dass sie niemals so hätte verstanden werden wollen. Dass ihre Formulierungen, die damals gängig waren, heute so ganz anders „rüberkommen“. Was ja dann vielleicht doch wieder „Übersetzungsaufgabe“ wäre? Es auf die heutige Sprache anzupassen, wenn ein vor 100 Jahren „normales“ Wort sich heute zu einem abwertenden Schimpfwort entwickelt hat? Es ist allerdings doch schon dünnes Eis, aus ein paar Briefen Gesinnungsweisen ableiten zu wollen, oder? Man ist ja selbst nie ganz objektiv und unterstellt leicht etwas, das man vielleicht gerne selbst so sehen möchte. Es ist global gesehen ein völlig unwichtiges Thema, dieses fehlende „e“ und ob da im Gesamtwerk jetzt ein paar Mal weniger „Neger“ drin steht. Aber es war für mich so ein typisches Beispiel, wie spontan man oft eine Meinung fasst und wenn man nur ein bisschen der „Gegenseite“ zuhört, diese doch auch versteht. Und – wenn man dafür gerade keine Zeit oder Lust hat, das mit dem impulsiven „zu allem sofort eine Meinung haben müssen“ vielleicht einfach mal sein lässt? Der großartige Rolf Dobelli, Ex Manager bei Swiss Air und heute Bestseller-Autor  („Die Kunst des klaren Denkens“, „Die Kunst des klugen Handelns“ und „Die Kunst des guten Lebens“, alles so toll zu lesen…) schildert eine Szene, wo ihn ein Journalist zu einem gerade aktuellen und „großen“ Thema befragt hat und er dem völlig fassungslosen Frager antwortete, dazu habe er sich noch keine Meinung gebildet. Man MUSS doch dazu eine Meinung haben, meinte der Journalist, Dobelli antwortete, er hatte noch nicht die Zeit sich so tief damit zu beschäftigen um zu so etwas den Denkprozess abschließenden wie einer Meinung zu gelangen. Er plädiert dafür, wir sollten uns alle öfter „meinungsfrei“ nehmen. Und dann aber auch die Zeit, sich mit wenigen Themen richtig zu beschäftigen.


Ich bin auch noch ein wenig meinungsfrei zum heutigen Tag. Ich erinnere mich schon an vieles und dass es so schön war. Aber einiges ist wie ausradiert. Ich bin total kaputt. Ich hatte heute zum zweiten Mal ziemlich Angst, im Gegensatz zum Zillertal wo es mich wacher und aufmerksamer gemacht hat, und „nur“ mental anstrengend, war es heute komplett irrational und mein Kopf hat mir einfach was vorgegaukelt. Das ist schon gruselig. Auch dieses Blitz- und Donner-Inferno, das bis spät Nachts ums Haus und um den Piz Boe tobt, läßt mich sehr demütig und mich hilflos fühlend zurück. Obwohl ich „drin“ bin und eigentlich alles gut ist.

Morgen ist auch noch ein Tag.






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