Lizumer Hütte – Geierjoch – Weitental – Hintertux. 1160 hm rauf, 1700 hm runter, 16,5 km. Nebel, Nebel, Nebel. 07:45 Uhr – 16:30 Uhr, 10 Minuten „Apfelpause“ Unterkunft Hotel Neuhintertux
Heute war dann also der Tag vor dem der Mann seit 6 Monaten warnt, seit ich das erste Mal diese München – Venedig Idee im Januar laut ausgesprochen habe: Das ich mich auf einem Altschneefeld im Nebel nicht mehr orientieren könne und den Weg verliere. Wobei: Den Weg hab ich zu keinem Zeitpunkt verloren. Ich habe nur einen ganz Neuen, ganz woanders hin gefunden.
Es ging schon schwierig los heute morgen, irgendwie lag es in der Luft, das gibt heute einen „stromintensiven“ Tag mit viel aufs Navi gucken. Powerbank ist voll aufgeladen, ich hatte eine Privatsteckdose am Bett! Der Wirt konnte mir morgens schon nicht ordnungsgemäß den Weg erklären! Er rief mir in wirrer Abfolge Himmelsrichtungen zu… Was soll ich bitte damit anfangen??
Ich starte also gleich schon hinter dem Haus die Navi-App auf ziemlich genau 2.000 hm. Es geht in der ersten Etappe schnell bis auf knapp 2.800 hm zum „Geierjoch“, dann wird der schlimmste Anstieg geschafft sein. Der Rest des Tages sei dann weitestgehend gerade und bergab immer in die Tuxer Berge hineinlaufend mit grandiosen Ausblicken. Den Schlussanstieg habe ich ja durch einen Abstieg ins Tal ersetzt. Ich freue mich schon! Der Wirt meinte, in 1,5 Std sei ich oben am höchsten Punkt. Rother sagt 2:15 Std. Ich genehmige mir 3, der Anstieg ist wohl sehr steil. Mit noch ein bisschen Foto-Stop-Puffer sollte ich also um 11 Uhr oben sein und dann den restlichen Tag entspannt durch die grandiose Bergwelt spazieren!
Es ist schon WIEDER neblig, bestimmt nur Morgennebel. Das ist ja noch ganz stimmungsvoll rede ich mir ein. Um 7:45 Uhr laufe ich los. Bald geht es rechts eine Wiese hoch, es hat wohl geregnet in der Nacht, alles ist schlammig. Der Nebel begleitet mich weiter, hält sich aber erneut von meinen Wegmarkierungen fern. Zu dem Zeitpunkt empfinde ich ihn noch als „die Tautropfen in der Wiese und an den Blumen-konservierend“ und „angenehm kühlend“, wie leichter Niesel nur ohne Nasswerden. Was beim Aufstieg ja immer hilft, wenn es nicht so heiß ist.
Ich komme ganz gut voran, aus der verschlammte Wiese wird mit steigender Höhe schnell Fels und Geröll. Es freut mich, dass ich den in der Beschreibung angedrohten sehr steilen Anstieg gar nicht als so steil empfinde – das ist bestimmt meine besser werdende Kondition! Ich passiere ein Schneefeld, der Weg ist klar zu erkennen, vor dem Feld und dahinter, rot weisse Striche in guten Abständen. Auch der Nebel kann diese nicht verdecken. Ich laufe und laufe und laufe, bald hab ich „Höhenmeter-Halbzeit.“ Diese feiere ich mit einem Schluck Wasser aus dem Trinkschlauch und einem pro Forma Blick auf meine App. Diese zeigt mich und den Weg in sehr hohem Abstand voneinander an. Hä???
Ich kapiere es überhaupt nicht, es war nirgends ein Abzweig zu erkenne. Ich befinde mich aber sehr eindeutig auf dem Aufstieg zum „Junsjoch“ nicht zum „Geierjoch“. Hinter mir steigen 3 Jungs auf, sie bestätigen, SIE sind auf dem Weg zum Junsjoch. Wir stehen zu viert mit vier verschiedenen Navi-Apps ratlos beinander, es ist klar ich bin falsch aber niemand versteht, wo der Fehler passiert ist. Einer packt sogar noch eine „analoge“ Karte aus. Männer können das ja – im Kopf einen gegangenen Weg einfach zurück spulen und in Gedanken nochmal ablaufen. „Das muss von der Höhe irgendwo bei dem ersten Schneefeld gewesen sein, aber da WAR KEIN Abzweig.“ wundert sich einer der dreien. Die anderen nicken und grübeln. Ich hab drei Möglichkeiten:
1. Hoch auf Junsjoch, von da ist ein gestrichelter Weg auf der „analogen“ Karte zu sehen rüber zum Geierjoch. Ein Weg der als „schwerer Bergweg“ gekennzeichnet ist. Und den meine Karte nicht kennt. Der Nebel wird dichter. Alle gucken so ein bisschen zweifelnd auf mich (ich selbst auch) Wir sind uns schnell einig, das scheidet aus.
2. Zurückgehen, ca. eine halbe Stunde, in Summe dann ca.eine Stunde Umweg in Kauf nehmen, die schon gegangenen Höhenmeter aufgeben um sie dann gleich darauf nochmal zu gehen?
3. Die Jungs gehen auf besagtes Junsjoch, und danach runter ins Tal nach Lanersbach. Ich könne mich anschließen, bieten sie an, von Lanersbach komme ich leicht mit dem Bus nach Hintertux, beides Taldörfer im Zillertal. Ich kenne Lanersbach, da hab ich meinen 40.sten Geburtstag gefeiert und wir sind dort beim Skifahren oft. Es wäre vermutlich das Vernünftigste.
Aber ich will nicht auf das JUNSJOCH (wie das schon klingt!) Ich will über das München – Venedig – Geher – Geierjoch und von dort aus den Rest des Weges diese phantastischen Blicke in die Zillertaler Alpen und dem Tuxer Glescher in mich aufsaugen. SO will ich das, darauf hab ich mich gefreut, tausende Bilder schon gesehen. Es ist eine der schönsten Etappen der ganzen Tour! Also bleibt nur: Wieder zurück. Ich ärgere mich überraschend wenig, bin in 20 Minuten wieder am Schneefeld und mir ist schnell klar, wie man das hat übersehen können: Da ist einfach mal genau NICHTS – während der „falsche“ Weg idiotensicher markiert und ausgetreten ist. Und da wo es angeblich hingeht, ragt ein steile Wand aus Geröll vor mir auf, da geht es überhaupt gar nicht weiter. Was soll ich da? Gibts nen Tunnel? Ich blicke ratlos umher und angestrengt nach oben und kann nun doch einzelne rot weiße Markierungen an den Steinen erkenne. Ach ne, das ist jetzt nicht euer Ernst. Leider weiß ich, es sind über 700 hm, der Nachteil der Vorbereitung. Das wird so weh tun da hoch.
Mir kommen zwei Trail-Runner entgegen, die mich morgens überholt hatten. Ob ich mich auch verlaufen hätte? Sie hätten erst am Junsjoch gemerkt dass sie falsch sind und nur mittels GPS hierher gefunden. Wenigstens muss ich mich nicht fühlen wie der Looser von Lizum, nein, das scheint heute jeder falsch zu machen.
Um kurz vor 12 bin ich fix und fertig oben. Wenn man die knappe Stunde verlaufen abzieht, war meine 11 Uhr Schätzung nicht schlecht. Besser als die des Wirtes! JETZT geht der schönste Teil der Tour los, vorbei am „enzianblauen Junssee, dahinter ist der Olperer, Tuxer Ferner und Friesenbergscharte zu sehen“, verspricht der Rother. Noch liegt alles im Nebel, aber es soll ja heute noch aufklaren und endlich der schöne Tag kommen, den man mir seit 3 Tagen verspricht! Als ich merke, dass ich auf der anderen Seite genau so steil runtersteigen soll, wie ich EBEN noch raufgestiegen bin, überkommt mich zum ersten Mal in fast 2 Wochen die Sinnfrage. WARUM mache ich das? Steil hoch um gleich drauf steil runter abzusteigen?? Damit ich dann heute Abend im Zillertal bin?? Warum? Für was? Wenn ich ins Zillertal wollte: Mit dem Auto wären wir in 2 Stunden da gewesen. Was für ein Schwachsinnsprojekt, wie fällt meinem Kopf immer sowas ein??
Der „enzianblaue Junssee“ lässt sich als schwarze Kloake unter dem Nebelfeld erahnen. Es ist schon wieder SO kalt. Ich muss kurz lachen, dass die Karte das als „Badestelle“ markiert und ich wirklich überlegt hatte, morgens gleich schon meinen Bikini anzuziehen, um mich kurz „abkühlen“ zu können. Ich mach euch mal das Bild im Reiseführer daneben, vielleicht illustriert das kurze das hohe Erwartungslevel, das ab jetzt permanent enttäuscht werden wird.
Ich treffe München – Venedig Wanderer Nummer 3 und 4, ein sehr junges Studenten-Pärchen die ihre Semesterferien dazu nutzen. Sie weiß unten am See ist eine „Stempelstelle“. Ich hab ja nix zum stempeln, nur mein IPad, aber sie macht es in ihren Rother-Wanderführer. Na gut, dann mache ich das auch. Wer weiß wofür das gut ist. Kann ich dann in ein paar Wochen vielleicht einer Bewerbung beilegen. Zusammen mit dem Diplom, der mir in Ecuador auf der Äquatorlinie stehend bescheinigt hat, ich könne ein Ei auf einem Nagel balancieren (das geht angeblich nur am Äquator. Am Äquator wiegt man angeblich auch weniger, aber das konnte ich damals nicht überprüfen)
Runter bin ich schneller, sie sind ein Stück hinter mir und ich höre sie … Teile aus Opern sich gegenseitig vorsingen?? Die sie dann anschließend diskutieren. Wahrscheinlich Musikstudenten. Das finde ich immer so spannend, wie unterschiedlich Leben sein können. Wir haben uns zuhause noch nie Opern gegenseitig vorgesungen, wirklich noch nie.
Der grandiose Ausblick? Sicher sehr grandios. Hinter den Wolken. Ich fühle mich langsam um meinen Tag betrogen. So ist das mit den Erwartungen, ich weiß, man sollte am besten gar keine haben. Aber SO VIEL Plackerei heute um dann genau NICHTS zu sehen? Das ist so gemein. Ich überlege zum ersten Mal ob ich eigentlich „Pech mit dem Wetter“ habe? Ja es ist so gut dass es nicht regnet, es ginge schon noch viel schlimmer. Keine Gewitter, die mich bislang erwischt haben. Aber das hier ist… soo gemein.
Die Studenten haben mich bald wieder eingeholt, es geht auf einem letzten Zwischenanstieg und über zwei weitere Schneefelder nochmal über ein kleineres Joch nach oben. Ich MUSS jetzt endlich mal eine kurze Pause machen, ich laufe seit heute morgen durch, inzwischen ist es 13 Uhr. Es ist kalt und nirgends gemütlich, ich setze mich kurz auf einen Stein, esse einen Apfel, trink was. Die Studenten sehe ich weiter oben über ein Schneefeld gehen, man sieht wie ein Nebelfeld auf sie zu schwebt um sie gleich darauf einzuhüllen. Wahrscheinlich sollte ich an ihnen dran bleiben, aber nach oben hole ich sie eh nicht mehr ein. Und Nebelfelder abpassen macht einfach keinen Sinn, die kommen und gehen heute wie ihnen beliebt. Nein GEHEN tun sie eigentlich nie. Ich lese kurz nochmal die Wegbeschreibung nach, ab da oben ist es wohl eindeutig, ich werde mich trotz Nebel nicht verlaufen. Als ich nach 10 Minuten los laufe, ist das Schneefeld schon wieder frei, nur damit kurz dann oben wieder alles eingehüllt ist. Langsam nervt es. Es ist bereits Nachmittag, wo bleibt die versprochene Sonne! Und die Blicke! Werde ich GAR keine haben heute?
Nun, wir können das abkürzen, es bleibt fast durchgängig so. Mir stehen noch über 1000 Höhenmeter Abstieg bevor, ich weiß von der Beschreibung dass ich gerade über eine lange Bergwiese ins Weitental absteige, der Weg verläuft in Spitzkehren. Es ist aber massiv verunsichernd, wenn man einfach gar nicht sieht was man da tut und wo man hinläuft, und wie der weitere Weg verläuft (den man wohl von oben bis runter ins Tal bestens sehen könnte) es erfordert höchste Konzentration. Zumal ich heute schon die Erfahrung gemacht habe, das ein eindeutiger Weg auch falsch sein kann. Ich bin weniger körperlich als im Kopf irgendwann total erschöpft. Normalerweise hole ich nach unten Zeit auf, aber so gehe ich langsam, jede Sekunde auf den Weg achtend.
Es gibt einen Punkt da bin ich überzeugt, das ist gar kein Nebel. Das sind diese Dementoren aus Harry Potter. Die, die einem jeglichen Mut und Lebensfreude aussagen. Genau so fühle ich mich. Die Autorin muss genau so einen Moment erlebt haben und nach diesem diese Kreaturen In ihren Büchern erschaffen haben. Habe ich die letzten Tage das alleine in meinem Rhythmus gehen genossen, fühle ich mich jetzt einfach nur so einsam. Eine leichte Angst ist jetzt ständig an meiner Seite, obwohl ich weiß das schlimmste ist geschafft, „nur“ noch nach unten auf leichten Wegen. Die ich aber nicht sehe. Ich mache mir Sorgen über die nächsten Tage wo auch „schwarze“ Wege dabei sein werden. Wieso war der heutige „nur“ rot? Wie soll das noch schwerer werden? Und wie soll ich das dann schaffen? Wenn der Nebel bleibt?
Nach Ewigkeiten bin ich im Weitental, hier zweigt der Weg zum Tuxer Joch Haus hoch, ich gehe von hier noch eine Stunde ganz nach unten. Ich blicke die „Wiese“ hoch, die ich gerade runtergekommen bin, man kann jetzt erkennen wie der Weg verläuft. Ich kann nicht fassen, dass ich davor eben noch „Angst“ hatte. Um mich herum ist plötzlich alles grün, hell und lieblich, Wasserfälle an meiner Seite.
Ich beglückwünsche mich zu der Entscheidung, das „dumme Tuxerjochhaus“ gemieden zu haben, das schon im Winter ein so hässlicher Klotz ist, von dem jeder schreibt es sei (neben einer weiteren) die unsympathischste Hütte auf dem ganzen Weg. Die soll mir nicht meine bisher so positiven Hüttenerlebnisse kaputt machen, schon gar nicht nach diesem – bislang für mich schwerstem – Tag. Auf mich wartet ein Hotel mit ein bisschen Schwimmbad und Sauna. Und morgen werde ich den einfachen „Schlechtwetter-Aufstieg“ zur Olperer wählen, vom Schlegeisspeicher aus. Alternativ könnte ich wieder hoch fahren mit der Gondel und die Friesenbergscharte gehen. Der Weg muss wunderschön sein, der erste Klettersteig, man darf ihn nur bei gutem Wetter begehen. Für Montag ist nun wirklich bestes Wetter gemeldet, aber darauf falle ich nicht mehr rein. Die dann folgenden Tage kann ich nicht abkürzen, ich muss bis Freitag Roneralm durchlaufen. Da ist dann der nächste Pausentag und der Mann kommt (hoffentlich) direkt dahin nach.
Um 16:30 Uhr komme ich endlich am Hotel an, die letzte Stunde wäre schon sehr idyllisch gewesen, hätte ich ein Auge dafür gehabt. Zahllose Murmeltiere haben mich begleitet und lauf gepfiffen. Eins direkt vor mir, lauter schriller Piff. Als ich meine Kamera einschalte, die beim Einschalten einen ähnlichen Ton von sich gibt, DA hat es aber mal irritiert geguckt!! Aus der sehr einsamen hochalpinen kargen Nebel-Bergwelt wurde fast schlagartig ein grünes Tirol-FerienProspekt-Idyll, überall 4-köpfige Mama, Papa, Mädchen, Bub – Bilderbuch-Familien die dort wandern, auf dem Rücken den Leih-Rucksack vom jeweiligen Hotel mit ihren Logos. Als ich mein Zimmer betrete – das muss ein Fehler sein, ich habe den Eindruck ich stehe im Bordell von Hintertux! Alles plüschig, lila Möbel, rosa Decken, grüner Teppich. Ein kleiner Erker mit Sitzecke (ich kann hier Besprechungen abhalten falls jemand vorbei kommen mag für ein Meeting?) Die Decke darüber bemalt mit sich räkelnden Nackten mit Wein und Obst. GROSsARTIG! GENAU so gedenke ich den Abend zu verbringen!
Der Abend füllt sich mit Schwimmen, Sauna, gut Essen. Ich bekomme kurzfristig noch einen Massagetermin für den Abend. Bei einer Katharina, mit harten osteuropäischem Akzent. Die Härte setzt sich in der Massage fort. Sie fragt bei nahezu jeder Stelle „was haben Sie da gemacht? Was ist mit Ihrem Nacken?“ „2 Wochen Rucksack Tragen.“ „Was ist mit Ihren Schultern?“ „Ich hatte heute beim Runtergehen Magenkrämpfe und musste den Hüftgurt aufmachen.. Da hing dann die letzten 2 Stunden das ganze Gewicht nur auf den Schultern.“ Sie findet unglaublich schmerzende Punkte, in den Beinen, am Rücken, überall. Nur bei den Armen befindet sie: „Die sind ok, da ist nichts.“ Na Gottseidank. Besteck zum Mund führen und Schreiben wird auch weiterhin gehen…Wenn ich aufheule sagt sie „Das wird morgen noch VIEL MEHR weh tun!“ und „Sie haben ja so ein Glück dass ICH heute da bin, ich bin Heilmasseurin.“ Wieso tut Glück so weh? „Ich kann auch Wellness aber da bringt Ihnen GAR nichts.“ Ich glaube ihr. Und staune wie weh so ein Körper tun kann, der sich bis gestern noch völlig „ok“ angefühlt hat.
Das war heute mein bislang schwerster Tag, v.a. mental. Der Abend lindert die Strapazen ein wenig, ganz fällt der Druck aber nicht ab.
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