Scharnitz – Hallerangeralm, 21 km, 850 hm, unterwegs von 10:45 Uhr bis 17:45 Uhr, davon ca. 5,5 Std. Gehzeit. Unterkunft Hallerangeralm
Um halb 10 klopft es energisch an meine Zimmertür.
Bestimmt das Zimmermädchen – jaaa ich bin ja gleich weg hier, ich war lange beim tollen Frühstück, hab alles gegessen was es auf Hütten so nicht gibt, und jetzt ist’s schon wieder … spät 🙂 Ich öffne die Tür – das Zimmermädchen sieht aus wie mein Bruder? Er grinst „War ja SO klar dass du noch net los bist…“ haha. Sagt einer der um halb 10 zur Arbeit fährt… „Na fein, dann kann ich dich wenigstens nochmal drücken,“ sagt er und ist kurz drauf schon wieder weg. Scharnitz liegt genau auf seinem Weg von und zur Arbeit.
Wir hatten gestern schon einen schönen Abend mit lecker Essen, ein bisschen Kartenkunde und eine neue Wetter-App hab ich seitdem auch. (Wetter-Online) Diese hat zwar 6,99 gekostet, dafür ist die Vorhersage besser als auf meiner 1.99 App. Gutes Wetter hat seinen Preis. Ich hatte ihm gestern noch ca. ein Pfund Gepäck mitgegeben, mein aufblasbares Kissen, den Outdoorschirm und anderen Krusch. Mein Taschenmesser mitzunehmen verweigert er „Man hat IMMER ein Messer dabei.“ seufz. Also zurück mit dem schweren Ding in den Rucksack. Ich führe noch ein paar kleinere Not- Operationen an meinen Füssen durch. Die Blasen an den Sohlen bekommen ein Pflaster, der Rest wird heute „alternativ“ behandelt – ich verschreibe Luft und Isarwasser – die ersten Stunden ist „Sandalen-Weg“, die schweren Bergstiefel bleiben erstmal am Rucksack.
Als ich auschecke ruft der Mann an der Rezeption seiner Chefin zu „des ist die, die gestern schon gejubelt hat, als ich bloß gsagt hab „Sie haben Zimmer Nummer…“ Die Chefin guckt verständnislos. Er erklärt „na die hot sie scho so gfreit als sie ZIMMER gehört hat! War vorher im Lager und als nächstes kommt auch wieder eins! Eigene Dusche, niemand sonst im Zimmer, das finden die toll!“ Eigentlich hab ich mich an alles gut gewöhnt, das WIRKLICH tolle an einem Zimmer ist aber, das einem die Steckdose ganz allein gehört und man alles aufladen kann, ohne Angst ausgesteckt zu werden von einem, der auch dringend seine GPS Uhr laden muss.
Ich lasse mir nochmal den Weg erklären, es klingt einfach. Ich muss nur den Zugang ins Hinterau-Tal finden, dann verhindern Berge links und rechts das ich falsch gehen kann. Er meint der Weg sei sehr schön. Ob ich an der „wahren“ Isarquelle vorbei komme, nun da gäbe es unterschiedliche Meinungen, ich solls mir halt mal anschauen.
Vor mir liegen ca. 15 km durch besagtes Tal, dann werde ich auf die Kastenalm stoßen. Das ist der Punkt, wo meine Umgehung wieder mit der der Birkarspitzen-Geher zusammenläuft, von da aus geht es dann nochmal 5 km eine kleine Bergtour mit 600 hm bis zur Hallerangeralm, mein heutiges Tagesziel.
An der Kirche geht es links rein, ich passiere erneut das „Headquarter“ von „Karwendel-Taxis“, große Werbeletter bieten mir an, mich auch zur Kastenalm FAHREN zu können… Ich laufe und freue mich drauf. Der Weg ist wirklich schön, leicht, idyllisch. Es geht immer der blauen Isar entlang, an einer Stelle stehen Hunderte Steinmännchen. Viele Radfahrer sind unterwegs. Woran man gut merkt das viel los ist? Wenn man aufhört, sich zu grüßen. Heute ist so ein Tag. Aber ich genieße das Laufen. Für die veranschlagten 3,5 Stunden brauche ich 5. Astrid Lindgren wusste schon:
„Und dann muss man ja auch noch Zeit haben einfach da zu sitzen und vor sich hin zu schauen.“
Genau das tue ich an den schönsten Stellen. Dank Trekkingsandalen kann ich jederzeit durch die Isar laufen und mich abkühlen. Die Isarquelle ist nach ca. 8 km erreicht, schön angelegt mit vielen Rast- und Picknickplätzen, aber doch unspektakulär. Eine zweite Theorie besagt, sie entspringt oben an der Alm wo ich heute sein werde. Das gucke ich mir später an. Um kurz vor 16 Uhr ist die Kastenalm erreicht, das Schild sagt „2 Stunden zur Hallerangeralm“ Direkt davor ein Bus der eine große Gruppe Rentner (50 sind es, wie ich später erfahren werde) ausspuckt, offensichtlich auch auf dem Weg zu meiner heutigen Station. Ich lege einen Zahn zu, es geht erstmal steil nach oben, dann wird die Steigung freundlicher, es geht heute wirklich gut! Ein Jeep mit einem freundlich winkenden Mann kommt mir zweimal entgegen, er winkt und lacht jedesmal. Später stelle ich fest, es ist der Wirt meiner heutigen Unterkunft.
Nach einer Stunde 40 Minuten (!!!) Komme ich auf diesem traumhaft gelegenen Fleckchen Erde an. Die Wirtin Evi winkt, fragt ob ich erstmal was trinken will. Ich richte ihr schöne Grüße vom Hans aus, der von der Tutzinger Hütte. Hans meinte damals „die Evi, des is eine ganz fesche!! Eigentlich so die scheenste Hüttnwirtin die mir so hom in der Gegend!“ Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich das auch ausrichten sollte, mache das aber vorsichtshalber mal lieber. Sie freut sich. Ihr Mann kommt dazu, fragt ob das der Hans ist, der den ganzen Tag auf der Tutzinger Hütte hockt und Bier trinkt? Und ob er sein Aussehen auch kommentiert hätte? Ich krame in meiner Erinnerung, dann muss ich verneinen. Er lacht „na Gottseidank!“
Ich frage, ob der ganze Rentnertrupp hinter mir auch hier schläft? Sie bejaht. Ich habe ein Lager gebucht, frage ob’s noch ein Zimmer gibt. Bei 50 Rentnern im Lager, das meiste waren Männer, ist es statistisch nicht möglich, dass da nicht mindestens 30 schnarchen. Na die Zimmer sind auch mit denen belegt, der Rest ist im Lager. Sie überlegt kurz „ich hab noch ein Notfall-Lager im Nebenhaus, ich geb dir den Schlüssel. Wenn das kein Notfall ist, dann weiß ich auch nicht.!“ Ist das nett! Sie erklärt, der einzige Nachteil sei, dass Bad und WC halt im Haupthaus sind. Ich winke ab, das sei doch egal (Das es doch nicht egal ist werde ich heute Nacht um exakt 1:41 Uhr herausfinden…)
Ich sitze noch eine Weile auf dieser unglaublichen Terrasse. Eigentlich war mein Plan hier morgen nach 8 Tagen durchgängig wandern meinen ersten Pausentag einzulegen, und den Tag im Liegestuhl GENAU HIER zu verbringen. Der Plan war in der Theorie sehr gut, schöner geht es einfach nicht. Nur soll sich das Wetter morgen Mittag ändern. Und ich habe völlig erstaunlicherweise gar nicht das Bedürfnis nach einem Tag „nicht gehen“, gerade meine verkürzten Tage mit 5-6 Stunden Wanderzeit, erst gegen 10 Uhr losgehen, sich unterwegs Zeit lassen können und dann Nachmittags ankommen, gefallen mir gerade so gut. Ich entscheide das morgen. Da ich als nächstes bei meinem Bruder und seiner Freundin in Innsbruck übernachte, bin ich da etwas flexibler.
Eine halbe Stunde nach mir fällt der Rentnertrupp ein, in den sich jedoch auch einige Jüngere gemischt haben, ein dicker, fröhlicher schwarzer Mann mitten unter ihnen. Bin gespannt, was das für welche sind, ich bin sicher ich werde es herausfinden. Vorerst räume ich aber das Feld, beziehe mein Notlager in einer Scheune unterm Dach, hinauf geht es über eine Hühnerleiter. Memo an mich: Maximal ein Glas Wein! Ich sortiere mich ein bisschen und gehe dann zum Essen rüber.
Erst sitze ich mit einem Ehepaar am Tisch, die ziemlich entsetzt ob des Trubels sind. Sie sind seit gestern schon da, da wären sie zu viert gewesen, hierher kommt man doch wegen der Ruhe. Sie gehen bald. Mehr und mehr von der großen Truppe trudeln ein, zu mir an den Tisch setzen sich jetzt ein Mann mit einer Zebra-gestreiften Jacke und seine Frau, die das dazu passende Zebra-Stirnband trägt. Das ist ja süß. Kurz drauf ein Russe, der sich als Vladimir vorstellt und gebrochen deutsch spricht. Meine Spaghetti mit Wild-Bolognese kommen, und sind so gut. Ich scanne die Karte kurz, ob die Veganerin, die planmäßig gestern hier gewesen sein müsste, wohl was gefunden hat zum Essen. Schwierig. Vegetarisch gibt es einiges, die Karte ist echt groß. Aber überall ist Bergkäse drin. Es bleibt eigentlich nur ein gemischter Beilagensalat übrig. Und Pommes. Immerhin.
Ob sie sich als Gruppe schon alle vorher kannten, frage ich den Zebra-Mann. Er sagt, ein paar ja, die treffen sich immer wieder, aber es kommen auch jedes Jahr Neue dazu. Vladimir schluckt seinen letzten Bissen Hirschbraten runter und sagt: „Aber einer ist immer dabei, der kennt uns alle! Immer!“ er macht eine bedeutungsvolle Pause, schaut mich erwartungsvoll an ob ich wohl von selbst drauf komme. Dann ruft er: „JESUS!!“ Oh, ein ganz neuer Themenkreis tut sich auf, wie schön. Der Zebramann wirft schnell ein, dass sie zwar eine Pilgergruppe sind die jetzt 4 Tage auf Wallfahrt sind, aber sie beten fei nicht nur! Sie essen auch gut und lachen auch viel. Den Teil mit dem sich kasteien lassen sie weg. Er bestellt einen Liter Rotwein. Der schwarze dicke Mann am Nebentisch sei ihr Pfarrer. Aus Nigeria zwar, aber inzwischen ein ECHTER Österreicher! Was einen echten Österreicher ausmacht will ich wissen. Der Zebramann weiß die Antwort sofort: „Na Humor, lachen. Der Pfarrer ist voll lustig und versteht inzwischen alle Witze.“ Humor als Mittel der Integration. Das gefällt mir. Er sei in Nigeria schon viel gelaufen aber immer nur im Flachen…Letztes Jahr kam er wohl zum ersten Mal mit auf Bergtour, war erst völlig entsetzt wieso man da bergauf läuft aber dann hat es ihm so gefallen, vor allem das Abends mit dem zusammen sitzen und Wein trinken. Jetzt kommt er immer mit zum Pilgern und Berggehen.
Vladimir versucht bei jedem neu bestellten Wein den Wirt zum „mittrinken“ zu animieren. Dieser antwortet jedes mal freundlich „des machma dann später“! Das imponiert mir.
Es sind überhaupt die nettesten Wirtsleute meiner bisherigen Reise, sie strahlen beide von innen, beantworten jeden Sonderwunsch so freundlich und versuchen was geht möglich zu machen. Obwohl da fast 60 Leute in dieser sehr kleinen Stube sitzen. Ich denke an den „Wirt in Rente“ von vor ein paar Tagen, der Veganer so hasst. Und wie ja im weiterten Gesprächsverlauf heraus kam, eigentlich auch alle anderen Gäste mit ihren ständigen Sonderwünschen. Ich finde es gut, dass er aufgehört hat, man muss aufhören wenn es gar keinen Spass mehr macht. Schade nur, dass er sich zwei Jahre später immer noch so aufregen muss. Den beiden hier scheint ihr Job wirklich Freude zu machen und echte Berufung zu sein.
Das Essen für den Nebentisch wird serviert. Eine kleine ältere Dame (die man nur als „reizend“ beschreiben kann) bekommt vom Wirt ihr Essen hingestellt. 2 Kaspressknödel mit einem Berg grünem Salat. Dazu sagt der Wirt lachend „Madl do host dein Schweinsbratn mit Knödl und einer extra Scheibn Fleisch!“ Sie zuckt zusammen, man merkt sie ringt mit sich zwischen höflich sein, aber auch auf gar keinen Fall Schweinebraten essen zu wollen. Sie gibt sich einen Ruck und sagt leise „ich esse kein Fleisch, ich hatte doch diese Knödel mit Salat bestellt?“ Der Wirt lacht, „Madl, schaug amoi GENAU auf dein Teller!“ Die Dame guckt bestimmt eine halbe Minute angestrengt auf ihren Teller, dann lacht sie, sagt Danke und fängt an zu essen.
Diese Szene brennt sich mir ein. In der Psychologie nennt sich das „Confirmation-Bias“, Bestätigungstendenz. Wir tappen ALLE hin und wieder in diese Falle, das wir ein starkes Bild schon vorab im Kopf haben (ausgelöst durch wen oder was auch immer) und dann einfach die Realität, selbst wenn sie direkt von unserer Nase ist, so schwer, verzerrt, oder im schlimmsten Fall gar nicht mehr erkennen können. Das erste Bild im Kopf ist stärker, in diesem Falle das eines extra großen Schweinebratens, der da einfach nicht war.
Ich nehme mir vor künftig noch achtsamer zu sein, wo und bei welchen Themen ich dazu neige „Fleischberge“ zu sehen, obwohl da in Wirklichkeit ein Knödel liegt.
Es ist halb 9, ich will noch mal raus, das Licht ist so schön. Draußen noch ein paar versprengte Pilger die mit ihren Weingläsern in der Hand Fotos machen. Dann setzt leichter Niesel ein, schlagartig sind alle weg. Die Berge sind von der Abendsonne angeleuchtet, die Luft klar, das Licht mild und warm, die Sonne geht langsam unter. Ich laufe trotz Niesel zu der kleinen Kapelle, höre kurz die unheilverkündende Stimme der Verkäuferin im Outdoorladen, die mir statt meiner bereits erworbenen Daunenjacke, zu einer Kunststoff-Faser riet „Das Problem mit Daunen: Wenn das EINMAL nass wird…“
Ich schiebe den Gedanken beiseite, gehe um die Kapelle, dahinter ist ein Bankerl mit Inschrift, dass diese wohl von Ludwig Grassler gestiftet wurde, dem ersten München-Venedig Geher. Darüber eine Gedenktafel und das Zitat: „Viele Wege führen zu Gott, einer davon über die Berge.“ Ich sitze ewig auf dieser Bank, die Kapelle im Rücken, die leuchtenden Berge vor mir. Es ist der magische Moment des Tages, alles ist still, der Regen hat sofort wieder aufgehört, es fühlt sich an als habe er sich nur kurz eingebracht um mir diesen Moment alleine zu verschaffen.
Grasslers Urne sei letztes Jahr in dieser Kapelle beigesetzt worden hatte ich irgendwo gelesen, die Hallerangeralm sei von allen schönen Plätzen in den Bergen sein absoluter Lieblingsplatz gewesen. Ich kann nicht glauben, dass er hinter der Mauer in meinem Rücken liegt, umgeben von 4 engen Wänden ohne Blick auf die Berge. Hätte er sich nicht eher hier auf der Wiese verstreuen lassen? Ohne ihn und seinen Pionier-und Entdeckergeist, ohne seine Liebe zu den Bergen und dem Wunsch Wege zu finden wo es noch keine gab, säße ich jetzt nicht hier. Mir steigen Tränen in die Augen, es fühlt sich so intensiv an als sitzt er jetzt gerade in diesem Moment direkt neben mir. Gemeinsam betrachten wir das Farbspiel an den Bergwänden und den Sonnenuntergang.
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